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Blog Universität Witten-Herdecke | Artificial Ethics und die Maschinenliebe

Artificial Ethics und die Maschinenliebe

Eine Erklärung der Unterschiede menschlicher und nicht menschlicher „Liebeslieferanten“.

In dem Seminar Normative Methoden (inklusive Ethik) bei Professor Dr. Matthias Kettner begann ich mich für das Feld der Roboterethik zu interessieren. Zunächst fand ich das Thema der selbstfahrenden Autos interessant, entdeckte aber kurze Zeit später das viel spannendere Feld der Maschinenliebe. Nicht erst seit verschiedensten Hollywoodfilmen wie Westworld, Her oder Blade Runner ist Zärtlichkeit oder Liebe zwischen Menschen und Maschinen beziehungsweise Robotern ein kontrovers diskutiertes Thema. Deshalb wollte ich das Feld der Maschinenliebe und speziell die Realdolls in einer ausführlichen qualitativen Arbeit untersuchen und dabei herausfinden, was da den Unterschied ausmacht und wie die Nachfrage nach Maschinenliebe aktuell aussieht. Und tatsächlich: Mit der zunehmenden Digitalisierung und Mechanisierung nahezu aller Bereiche unserer Lebenswelt gewinnt das Thema Roboterethik auch in Bezug auf „die schönste Nebensache der Welt“ zunehmend an Bedeutung.

Durch Kontakte aus vorangegangenen Forschungsprojekten konnte ich zum Thema Realdolls Interviews mit zwei Frauen durchführen, die bereits Erfahrungen in diesem Gebiet sammeln konnten. Realdolls sind hochwertige Puppen aus medizinischem Silikon, welche nach dem Vorbild eines Bordells seit 2017 im „Bordoll“ in Dortmund vermietet werden. Mit einem nicht menschlichen Wesen intim zu werden, ist also mitten in Deutschland seit einigen Jahren keine Science-Fiction mehr, sondern ein reales Angebot. Insgesamt ist der Absatz an Realdolls vor allem für den Privatgebrauch in den letzten Jahren deutlich gestiegen.

Für diese Interviews arbeitete ich mit dem Maschinenethiker schlechthin, Professor Oliver Bendel, zusammen. Dieser ließ mir bei der Gestaltung freie Hand, stand mir allerdings jederzeit für Fragen zur Verfügung. Die dabei entstandenen Texte sind Teil seines neuesten Werks „Maschinenliebe: Liebespuppen und Sexroboter aus technischer, psychologischer und philosophischer Perspektive“, welches im Verlag Springer Gabler veröffentlicht wurde.

Das Werk "Maschinenliebe" ist 2020 erschienen und gliedert sich in die vier Teile:

  • Einführung und Hintergrund,
  • Liebespuppen und Sexroboter in der Praxis,
  • Liebespuppen und Sexroboter aus philosophischer und soziologischer Sicht und
  • therapeutische, pflegerische und psychologische Aspekte von Liebespuppen und Sexrobotern.

In dem Buch werden verschiedenste spannende Felder betrachtet, welche sich beispielsweise mit der Frage „Wann ist die Nutzung von Sexrobotern angemessen?“ oder mit dem Thema „Sexpuppen und Sexroboter aus sexualwissenschaftlicher Perspektive“ beschäftigen.

 

Herausgeber: Oliver Bendel

ISBN 978-3-658-29864-7

Auf Basis der Interviews habe ich eine Ausarbeitung mit dem Titel: „Artificial Ethics und Supported Sex; (…) Eine organisationsethische Untersuchung des Bordolls als Betrieb unter besonderem Fokus der normativen Differenzen zwischen einem klassischen Bordell und dem Bordoll.“ verfasst. In dieser verglich ich das Bordoll mit konventioneller Sexarbeit und versuchte, die wesentlichen Unterschiede herauszuarbeiten und zu klären, welche ethischen Fragestellungen das Thema mit sich bringt. Der Begriff Supported Sex ist ein eigens für diese Ausarbeitung erdachter Begriff und bezeichnet der Wortbedeutung entsprechend gestützten beziehungsweise unterstützten Sex.

Es sollte in meiner Arbeit nicht nur darum gehen, was die Maschine (mit Individuen) tun darf und was sie nicht tun darf, sondern mindestens in gleichem Maße darum, was der Mensch mit derMaschine tun darf und was er nicht darf beziehungsweise sollte. Besonders wichtige ethische Fragen waren dabei, inwiefern sich klassische Bordelle von Bordollen unterscheiden und wie das Verhältnis von Sexworkern zu ihren künstlichen Pendants ist. Dabei war für mich überraschend, dass meine Interview-Partnerin Realdolls nicht als Konkurrenz wahrnahm, sondern sich im Gegenteil bereits selbst eine angeschafft hatte, um mit dieser zukünftig ihren Service zu ergänzen. Auch die nahezu therapeutische Wirkung von gekaufter Nähe, welche von beiden Interview-Partnerinnen in unterschiedlichen Kontexten beschrieben wurde, eröffnete in diesem Themenkomplex neue Perspektiven und Untersuchungsansätze.

Die Verkäufe von Realdolls, die oftmals als großes Sexspielzeug betrachtet werden, steigen seit Jahren und laut mehrerer Hersteller gehen sie gerade seit Beginn der Pandemie weltweit durch die Decke. Manche Medien gehen sogar soweit, diese Branche neben Amazon und Netflix als großen Pandemiegewinner zu klassifizieren. Es gibt also eine starke Nachfrage nach diesen Produkten, aber eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Markt in Bezug auf seine ethischen Implikationen fehlte bislang. Momentan ist das Thema Realdolls noch ein weniger erforschter Teil der Ethik- beziehungsweise Sexualforschung, daher sind meine Forschungsarbeit und das Werk „Maschinenliebe“ wichtige Schritte in der wissenschaftlichen Untersuchung des Themas.

Als ich mir die Themen Realdolls, Bordoll sowie Supported Sex allgemein angeschaut habe, stellte ich fest, dass es unterschiedliche Ansatzpunkte für Analysen beziehungsweise Diskussionen gibt. Einige der wichtigsten Fragestellungen fasse ich hier kurz zusammen.

Ablehnung vs Potenzial

Die Debatte um Realdolls ist sehr vielschichtig. Die öffentliche Wahrnehmung geht von Begeisterung und Bereicherung über Bedenken bis hin zu absoluter Ablehnung. Offene Fragestellungen sind unter anderem: Ist Sexarbeit generell Ausbeutung und wäre es damit ethisch gesehen vertretbarer, die dort arbeitenden Personen komplett durch Realdolls zu ersetzen? Wäre ein solcher Austausch überhaupt möglich, also können Realdolls vergleichbare Leistungen liefern? Sind Dolls eine gute Option für Personen mit sozialen Einschränkungen oder bestimmten Behinderungen? Oder geht eine Gefahr für „echte“ Frauen von ihnen aus?

Die pandemieinduzierte prekäre Situation der klassischen Erotikbranche nehmen einige Politiker zum Anlass, sich für ein generelles Sexarbeitsverbot auszusprechen. Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte der SPD, fordert beispielsweise die menschliche Sexarbeit langfristig zu verbieten. Aus solchen oder ähnlichen Forderungen entwuchs die Diskussion, ob es langfristig eine Option wäre, die Dienstleistungen generell durch Roboter, Maschinen oder Puppen zu ersetzen. Vermutlich wäre aber (wenn überhaupt) nur eine Teilsubstitution möglich, da sie aktuell nur einen eingeschränkten Funktionsumfang haben. Insbesondere fehlen dabei die emotionale Begleitung und die soziale Komponente. Gerade in Zeiten von COVID-19 können Dolls wegen ihrer „Desinfizierbarkeit“ in der öffentlichen Wahrnehmung allerdings Vorteile haben.

Der aktuelle Nutzen und die Gefahren

Einige Ausarbeitungen, die bisher zum Thema Realdolls veröffentlicht wurden, legen positive Effekte für Menschen mit sozialen Defiziten nah. Personen mit solchen Einschränkungen finden sich auch unter den Kunden des Bordolls. Insgesamt ist die Kundenschicht, wie sich in dem Interview offenbarte, breit gestreut: von Ehemännern, die ihre Frau nicht betrügen wollen, über Paare bis hin zu Cosplayern ist alles dabei. Besonders angenehm scheint für die Nutzer zu sein, dass die Doll „keinerlei Erwartungen an sie“ hat, da sie ein Objekt ist.

Einige sehen aber auch Gefahren in der Nutzung von Realdolls. Dadurch, dass man mit den Realdolls „alles machen kann“, ohne dass diese widersprechen oder sich wehren, könnte, so die Befürchtung einiger, eine Degradierung der Frau zum bloßem Objekt sowie eine Verrohung der Nutzerschaft in Kauf genommen werden. Übertragen die Nutzer die Willenlosigkeit und die Freiheit, nahezu „alles“ mit dem Gegenüber machen zu können, auf ihre zukünftigen Sexualpartner, könnte dies zu Übergriffen führen, so die Sorge. Diese Sorge teilte die von mir befragte Bordollbesitzerin allerdings nicht, da ihre Kunden in der Lage seien, zwischen echten Personen und Realdolls zu unterscheiden und eine klare Trennung vorzunehmen.

Auch bei sexuellen Abnormalitäten, z. B der Pädophilie, ist umstritten, ob Dolls zum Einsatz kommen sollten. Die Befürworter sagen, dass hier ein Objekt das bessere „Gegenüber“ wäre. Gegner verweisen darauf, dass betroffene Personen durch die Interaktion mit Realdolls erst richtig „auf den Geschmack“ kommen und dadurch gefährlicher für die Allgemeinheit werden könnten. In welcher Form Realdolls überhaupt als Substitut für die Ausübung von Gewaltfantasien dienen können, ist jedoch umstritten. Dieser Meinung sind auch die von mir befragten Expertinnen.

Die Frage, ob Realdolls als Triebstiller oder Triebförderer wirken, kann zu diesem Zeitpunkt allerdings leider noch nicht valide beantwortet werden, dafür bräuchte es umfangreiche Forschung. Diese ist meines Erachtens dringend notwendig, denn wenn sich niemand mit den Fragen der Roboterethik beschäftigt, ist auch niemand in der Lage, die Entwicklung dieses Themas in Deutschland zu steuern.

Maschinenliebe ist auf jeden Fall heute stärker im Fokus der Medien und der Politik. Was noch gänzlich fehlt und was der nächste logische Schritt in der Erforschung wäre, sind umfangreiche valide Studien zur Nutzung, welche uns Aufschluss über mögliche Chancen oder auch Gefahren geben. Ein erster Schritt in die richtige Richtung, also eine verstärkte wissenschaftliche Betrachtung des Themas Maschinen und (körperlicher) Nähe, ist mit der Veröffentlichung des Werkes Maschinenliebe bereits getan.

Über die Autoren

Leonie Weber wurde 1995 geboren und stammt aus Lemgo in Nordrhein-Westfalen.

Im Anschluss an ihr Abitur studierte sie Philosophie, Politik und Ökonomik an der Universität Witten/Herdecke.

Nach ihrem Bachelor begann sie ihr erstes Masterstudium der Fachrichtung Ethik und Organisation an der UW/H, welches sie aktuell durch ihren zweiten Masterstudiengang General Management ergänzt.

 

 

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