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Blog Universität Witten-Herdecke | Dr. Sigrun Caspary zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung

„Es muss ein anderer Umgang geübt werden mit dem Thema und den Menschen, die es betrifft“

Interview mit Dr. Sigrun Caspary zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung

Wie kann das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderungen gestärkt werden? Welche Folgen hatte die Corona-Pandemie für die Integration von Studierenden und Mitarbeiter:innen? Und welche Herausforderungen ergeben sich beim Thema Barrierefreiheit? Anlässlich des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung erklärt Dr. Sigrun Caspary, Beauftragte für Gleichstellung und Vielfalt der Universität Witten/Herdecke, warum es wichtig ist, Sichtbarkeit für die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung zu schaffen und wieso ein vorurteilsfreier und wertschätzender Umgang mit der Thematik schon viel wert sein kann.

Frau Caspary, Sie sind Beauftragte für Gleichstellung und Vielfalt an der Universität Witten/Herdecke. Was genau ist Ihr Aufgabenbereich – und welche Bedeutung kommt dabei dem Thema Inklusion und Teilhabe zu?

Der Aufgabenbereich für die Beauftragte/n für Gleichstellung und Vielfalt ist in der Grundordnung formuliert. Dort heißt es in §44 (3):

„Die oder der Beauftragte für Gleichstellung und Vielfalt nimmt die Belange von Frauen, Minderheiten und potentiell benachteiligten Gruppen, die Mitglieder oder Angehörige der Universität sind, wahr. Gemeinsam mit den Stellvertreterinnen oder Stellvertretern sowie dem zuständigen Präsidiumsmitglied wirkt sie oder er auf die Einbeziehung relevanter Aspekte von Gleichstellung und Vielfalt bei der Erfüllung der Aufgaben der Universität hin, insbesondere im Hinblick auf Studium, Lehre und Forschung sowie bei der Entwicklungsplanung.“

Die Position der Beauftragten für Gleichstellung und Vielfalt bekleide ich erstmalig – viel Neuland und auch noch viel Gestaltungsfreiraum. Die Stellvertreterinnen sind ihren Statusgruppen entsprechend gewählt: Professorin Dr. Claudia Kiessling (Fkt. Gesundheit), Dr. Svenja Hartwig (WittenLab), Margaux Kuwilsky (Abt. Kommunikation und Marketing) und Kira Schmöcker (BA PPÖ, Fkt WiGe). Das Thema Diversity & Inclusion gehört zu den Aufgabenbereichen des Vize-Präsidenten für Organisationsentwicklung Dr. Dirk Jakobs.

An der UW/H werden die Bereiche Gleichstellung und Diversity gemeinsam gedacht. Studierende und Mitarbeitende können sich beispielsweise an mich bzw. uns alle wenden unabhängig davon, welche geschlechtliche Identität sie haben. Das ist an staatlichen Hochschulen aufgrund der rechtlichen Vorgaben einfach anders, dort sind Zuständigkeiten separiert.

Das Thema Inklusion und Teilhabe wird vielleicht nicht auf Anhieb mit Gleichstellung und Vielfalt in Zusammenhang gebracht – gerade deshalb freue ich mich, anlässlich des heutigen Aktionstags die Gelegenheit zu haben, auf die Wichtigkeit des Themas aufmerksam zu machen und die Universitätsgemeinschaft einzuladen, uns alle gerne anzusprechen! Behinderung oder Beeinträchtigung kann so viele Ursachen haben, körperliche, geistige, psychische, sie kann angeboren sein oder durch Krankheit oder Unfall verursacht – manchmal ist sie sicht- oder wahrnehmbar, aber das eben bei Weitem nicht immer. Das Thema ist so vielschichtig, dass es einer ausführlicheren Wahrnehmung bedarf. Deren Auswirkungen auf Studium und Beruf gilt es zu mildern, daher berate und unterstütze ich gerne, sei es beispielsweise zum Thema Studium mit chronischer Krankheit, Verbesserung der digitalen Barrierefreiheit in der schriftlichen Kommunikation oder anderen Anliegen.   

Die Integration von Studierenden und Mitarbeiter:innen mit Behinderung wird an der Universität Witten/Herdecke als selbstverständlich verstanden und dafür notwendige Maßnahmen werden mit hoher Priorität umgesetzt. Wie genau sieht das in der Praxis aus?

Lassen Sie mich einmal auf die Limitation zur Datenlage aufmerksam machen. Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen mit Beeinträchtigung an der UW/H arbeiten und/oder studieren. Diese Information gehört zu den besonders sensiblen personenbezogenen Daten und die bekommen wir nur, wenn sie selbst es uns wissen lassen.

Man sollte unterscheiden zwischen denjenigen Menschen, die mit einer Beeinträchtigung an die UW/H kommen, und denjenigen, die diese Beeinträchtigung erst im Verlauf ihres Studien- oder Arbeitslebens erfahren. Es gibt keine Verpflichtung, eine Behinderung anzugeben, aber es gibt die Möglichkeit bzw. Verpflichtung für eine Unterstützung in dem Fall, dass eine Beeinträchtigung angezeigt wird. Geben Mitarbeitende eine Behinderung an, gibt es für die UW/H als Arbeitgeberin bestimmte Vorgaben. Eine Schwerbehindertenbeauftragte haben wir an der UW/H nicht, die Kollegin, die sich vorstellen konnte, dieses Amt zu übernehmen, ist kurz vor ihrer Wahl in diesem Sommer leider verstorben. Die Belange von Menschen mit Behinderung werden natürlich vom Betriebsrat vertreten. Je nach Anliegen können Sie sich an den Inklusionsbeauftragen Dr. René Geißen wenden, der sich des Themas in Zusammenhängen mit dem Arbeitsplatz annimmt. Meist wissen Betroffene, welche Unterstützung die Arbeitgeberin leisten kann. Dann gibt es auch einmal ein Büro ohne Teppichboden für Allergiker:innen.

Wenn man plötzlich mit einer Beeinträchtigung konfrontiert wird, kann man sich an die Vorgesetzten oder die Personalabteilung, den Inklusionsbeauftragten oder an den Betriebsrat wenden. Studierende können sich an das für sie zuständige Studiendekanat wenden. Oder eben gerne bei mir anfragen. Wenn ich auch nicht anmaße, immer helfen zu können, so kann ich doch Rat und Hinweise geben. An dieser Stelle auch gleich der Hinweis, dass ich wie alle anderen Genannten auch zur Vertraulichkeit verpflichtet bin. Wo Unterstützung erforderlich ist, wird sie individuell gegeben – da wird viel geleistet, was nicht unbedingt für alle sichtbar sein muss.

Dennoch gibt es immer noch viel Unsicherheit im Umgang mit der Thematik. Häufig scheuen sich Menschen, ihre Beeinträchtigung zu benennen, weil sie befürchten, von Vorgesetzten, Kolleg:innen oder Kommiliton:innen als weniger fähig betrachtet und daher benachteiligt zu werden. Dem möchte ich an dieser Stelle einmal offen entgegentreten: Beeinträchtigt zu sein heißt nicht, etwas nicht zu können im Sinne von Unvermögen. Es heißt, dass man nicht alles ebenso gut kann, wie Menschen ohne diese Beeinträchtigung und daher bestimmte Erwartungen anders erfüllt werden oder man mehr Aufwand betreiben muss, um eine Lösung zu finden. Das Englische trifft es vielleicht besser: „disability is not inability“ (Ban Ki-moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen, 2016). Es muss ein anderer Umgang geübt werden mit dem Thema und den Menschen, die es betrifft. Wir dürfen daher an dieser Stelle noch einmal ermutigen, uns und alle Genannten anzusprechen, wo wir Unterstützung bieten können.

Bei dem Thema Inklusion fällt häufig das Stichwort Barrierefreiheit. Welche Aspekte sind dabei Ihrer Meinung nach im Studium bzw. am Arbeitsplatz besonders wichtig? Und welche Herausforderungen gilt es zu meistern?

Barrierefreiheit hat viele Facetten. Da ist zum einen die physische Barrierefreiheit für Menschen im Rollstuhl, dass sie die Orte erreichen können, an denen sie ihr Studium durchführen oder ihre Arbeit verrichten. Wir haben schon Lehrveranstaltungen umgelegt, weil es im Campus-Gebäude im Dachgeschoß einen Seminarraum gibt, der nicht barrierefrei erreicht werden kann. Dies liegt daran, dass bei der Errichtung des Gebäudes die baurechtlichen Auflagen andere waren. Im Neubau ist das zum Glück anders, da ist bei der Planung das Thema inkludiert worden. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sind beispielsweise Hinweise in Brailleschrift angebracht worden und auf dem Boden lenkt ein taktiles Leitsystem die Wege. Andere UW/H-Gebäude sind noch nicht so gut ausgestattet.

Ähnlich ist es mit digitaler Barrierefreiheit, „normale“ Menschen (zumindest erachten sie sich als solche, wenn sie eine Beeinträchtigung nicht haben) müssen auf bestimmte Schwierigkeiten hingewiesen werden, um ihnen bewusst zu machen, dass es sie gibt, und damit wir Möglichkeiten und Wege finden, Abhilfe zu leisten. Da können wir noch besser werden. Es gibt sicher noch mehr Beispiele, die nicht alle erwähnt werden können, was aber nicht heißen soll, dass wir sie nicht kennen oder nicht mit ihnen umzugehen wissen. Wenn Sie etwas vermissen oder Anregungen haben, nur zu!

Die Pandemie hat auch in der Lehre und in der Arbeitswelt vieles verändert: Aus Präsenz wurde Online-Lehre, aus der Arbeit vor Ort wurde Home Office. Welche Vorteile und Schwierigkeiten haben sich hier bei der Integration von Studierenden und Mitarbeiter:innen mit Behinderung ergeben?

Die größte Schwierigkeit in der Pandemie war sicher, die gewohnte Arbeits- und Lernumgebung nicht nutzen zu können. Dies betrifft natürlich nicht nur Menschen mit Behinderung, aber Menschen mit Beeinträchtigungen haben häufiger Vorerkrankungen, aufgrund derer sie dann auch der Gruppe der „vulnerablen“ Personen zuzurechnen sind, die besonders vorsichtig sein müssen hinsichtlich ihrer Kontakte. In dieser Gruppe haben besonders Alleinstehende in Zeiten „sozialer Distanz“ auch unter Einsamkeitsgefühlen gelitten. Sie haben sich sehr gefreut, zwischenzeitlich wieder in Präsenz mit Menschen zusammenzukommen.

Es gab auch Stimmen, dass es als angenehm empfunden wurde, von zuhause arbeiten zu können und dass man sich vorstellen kann, auch in einer Zeit „nach Corona“ einen Tag in der Woche im Homeoffice tätig zu sein. Aber ehrlich, der Wunsch, wieder drei-dimensional mit Kolleg:innen und Kommiliton:innen gemeinsam etwas erleben zu können, war meines Erachtens bei allen groß.

Bei Studierenden mit Gehörbeeinträchtigungen kam die Schwierigkeit auf, im Präsenz-Unterricht Beiträge von Dozierenden oder Studierenden mit Mundschutz nicht so gut verstehen zu können. Hier wurde angeregt, eine Vernetzung Betroffener zu versuchen, um Erfahrungen in dieser Hinsicht austauschen zu können. Dieser Bitte kommen wir wie gesagt gerne nach. Wenn hier Erfahrungen gemacht wurden, die ich an dieser Stelle nicht teilen kann, weil ich sie nicht kenne, auch hier noch einmal die herzliche Einladung, mich anzusprechen.

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll seit 1993 mehr Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderung schaffen. Wie können wir als Universitätsgemeinschaft dazu beitragen?

Menschen mit Behinderungen sind lange Zeit von der Gesellschaft ausgegrenzt und hinter Wände besonderer Einrichtungen abgeschoben worden. Ausbildungs-, Bildungs- und Arbeitsleben sind noch lange nicht diskriminierungsfrei. Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll daran erinnern, dass es besonders unheilvolle Zeiten im Umgang mit Menschen mit Behinderungen gab und dass immer noch viel zu tun ist, um Menschen mit Beeinträchtigungen besser zu integrieren.

Ein vorurteilsfreier und wertschätzender Umgang mit der Thematik ist viel wert. Die Scheu überwinden und Menschen mit Beeinträchtigungen nicht als „ungewohnt“ zu betrachten oder aber einmal innezuhalten und für sich selbst zu überlegen, wie man zurechtkäme, wenn man diese oder jene Beeinträchtigung hätte, ist eine Möglichkeit mit der Thematik besser umzugehen zu versuchen. Dies schreibe ich wohl wissend, dass es auch die Menschen mit Behinderung gibt, die gar nicht wissen, wie es ist ohne Beeinträchtigung zu leben, und daher auch nicht vermissen, was sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht kennen. Und was ist schon „normal“? Waren Sie schon einmal in einer Reha-Klinik als einzige unter lauter Menschen mit Gehhilfen? Wer mit einer Behinderung zur Welt gekommen ist, kennt nicht das andere Leben ohne. Die oder der macht alltäglich Dinge, die für uns „andere“ ungewohnt oder gar unvorstellbar sind. Sich einen Arm zu brechen, ist eine vorübergehende Beeinträchtigung, die hoffentlich vollends ausheilt. Menschen mit Hörbeeinträchtigungen allerdings fühlen sich in großen Gesellschaften nicht so wohl, weil sie nicht alles verstehen. Dafür blühen sie in kleineren Gruppen auf – allein so etwas zu wissen und entsprechend zu berücksichtigen, schafft viel positives Wir-Gefühl. Manchmal bedarf es keiner großen Taten, sondern kleiner Aufmerksamkeiten, die zu mehr Inklusion in unserem Alltag führen.

Zum Abschluss des Interviews möchten wir noch von Ihnen wissen: Wenn Sie sich im Kontext von Gleichstellung, Inklusion und Vielfalt etwas für die Zukunft wünschen dürften, was wäre es?

Eigentlich steht das schon im letzten Absatz: ein wertschätzender Umgang miteinander. Menschen mit Beeinträchtigungen entwickeln für ihre Situation besondere Fähigkeiten. Sie können vielleicht dies nicht, dafür können sie das. Manches geht nicht so schnell, anderes dennoch manchmal für Menschen ohne Beeinträchtigung verblüffend gut. Wo wir Schwierigkeiten sehen, gibt es für diese Menschen eigentlich keine, weil das für sie „normal“ ist. Sich damit auseinanderzusetzen, wie es ist, eine bestimmte Beeinträchtigung zu haben, oder sich einmal bewusst zu machen, wie schnell es gehen kann, dass man selbst in die Situation kommt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aktiv dazu beizutragen, dass wir uns auf dieses Thema einlassen und diskriminierungsfreier mit Menschen mit Behinderungen umgehen, das wäre doch schön – und das können wir alle! Lassen Sie es uns einfach tun.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns über dieses wichtige Thema zu sprechen. 

Weiterführende Informationen

Im Podcast UW/Hörfunk haben wir mit Sabrina Führer gesprochen. Sie ist seit ihrer Geburt blind und berichtet aus ihrem Arbeitsalltag an der Universität Witten/Herdecke. Du findest die Folge bei Anchor FM, YouTube oder Spotify

Dr. Sigrun Caspary

Dr. Sigrun Caspary ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am WIFU-Stiftungslehrstuhl für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien sowie Beauftragte für Gleichstellung und Vielfalt an der Universität Witten/Herdecke. 

Kontakt: 

Was denkst du?

Du hast Anregungen oder Vorschläge, wie die Integration von Menschen mit Behinderung an der UW/H noch besser gelingen kann oder möchtest deine Erfahrungen zu dieser Thematik teilen?

Wir freuen uns über deinen Kommentar zu diesem Thema!

   

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