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Blog Universität Witten-Herdecke | Worauf kommt es im Job an? Im Gespräch mit Ärzte-Ohne-Grenzen Arzt Tankred Stöbe

„Ich habe früh gelernt, dass es die eine ideale Entscheidung nicht gibt.“

Studierende im Gespräch über berufliche Herausforderungen mit einer der bekanntesten Medizinerpersönlichkeit Deutschlands

Worauf kommt es im Berufsleben wirklich an? Wie bereitet ein Studium auf den komplexen Berufsalltag vor? Die ehemaligen Management-Studierenden Paul Butzlaff und Jonathan Schmidt-Troschke sind bereits während ihres Studiums an der Uni Witten/Herdecke durch Europa gereist, um herauszufinden, worauf es im Job wirklich ankommt. Sie trafen ehemalige Studierende ihrer Uni, führten intensive Gespräche und erhielten wichtige Tipps und Erfahrungen für ihr zukünftiges Berufsleben. Impulse lieferte auch der Mediziner Tankred Stöbe, Mitglied im internationalen Vorstand von Ärzte ohne Grenzen. Ein Gespräch zwischen Studierenden und einer der bekanntesten Medizinerpersönlichkeiten in Deutschland. 

Durch seine Tätigkeit bei Ärzte ohne Grenzen erlebt der Mediziner Tankred Stöbe die humanitären Katastrophen, die leider oft Konsequenz schwerwiegenden politischen Versagens sind, näher und intensiver als Politiker. Lange war er mit der deutschen Leitung von Ärzte ohne Grenzen betraut, Teil der weltweiten Organisationsführung und hat so auch auf die gravierenden Zustände in vielen Regionen aufmerksam gemacht. Wir treffen Tankred in einem Café in Berlin-Charlottenburg. Es entwickelt sich schnell ein offenes und herzliches Gespräch, und Tankred vermag es immer wieder auf eindrucksvolle Weise, seine Erzählungen mit kleinen Anekdoten zu versehen, die in uns lebendige Bilder seiner Einsätze in vielen Krisenregionen dieser Erde entstehen lassen. Immer wieder äußert sich Tankred frustriert darüber, wie wenig die Politik unternimmt, um Krisen zu verhindern oder zu befrieden. Trotzdem nehmen wir ihn voller Tatendrang und Optimismus wahr.  

Hallo Tankred! Nach Zwischenstopps in Afrika, Indien, den USA und Herdecke hast du dich bei Ärzte ohne Grenzen beworben. Kommt man da als junger Arzt einfach so rein?

(lacht) Ich dachte nach meinem Bewerbungsgespräch eigentlich, ich sei ein total schlechtes Match. Ich hatte auf deren Fragen keine für mich befriedigenden Antworten und die Inhalte, um die es dort ging, waren mir fremd. Sie haben mich aber trotzdem genommen. Ich wurde in einen Pool von Ärzten aufgenommen und musste meine zeitliche Verfügbarkeit angeben. Dann wurde geschaut, wo und zu welcher Zeit für das jeweilige Profil eine Stelle frei ist. Es folgte ein Projektangebot, und wenn es passt, kommt die Zusage. Das erste Projekt dauert meistens neun bis zwölf Monate. Das ergibt auch Sinn, da beim ersten Einsatz alles neu und anders ist als im bisherigen Arbeitsleben und etwas Zeit benötigt wird, um sich zurecht zu finden. Ich habe damals in Herdecke gekündigt und alle Zelte erstmal abgebrochen, das Auto stillgelegt und meine Habseligkeiten bei Freunden untergestellt.

Welche Skills benötigst du in deinem Beruf?

Grundsätzlich ist ein Interesse und Offenheit gegenüber fremden Menschen und anderen Kulturen essentiell. Um einen Konflikt zu verstehen, rede ich viel mit den Menschen und mache mich mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut. Praktisch gesehen muss ich teamfähig und flexibel sein und schnell auf neue Situationen reagieren. Dazu gehört auch Verantwortung zu übernehmen und innerhalb kürzester Zeit schwierige Entscheidungen zu treffen.

Wie verlaufen eure Einsätze? 

Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Projektarten unterscheiden. Zum einen sind das Projekte im Rahmen von Naturkatastrophen – also Tsunamis, Überschwemmungen, Wirbelstürme, etc. Dann gibt es Einsätze bei sogenannten „ManMade“-Konflikten – beispielsweise die Konflikte in Syrien, Libyen oder Südsudan. Zuletzt wurde ich auch in Erkundungsprojekten eingesetzt, um festzustellen, inwieweit neue Einsatzgebiete in Frage kommen. Beispielsweise habe ich in einem Projekt im Jemen gearbeitet, da ging es um Cholera und Kriegschirurgie. Davor war ich in Libyen, um die Stadt Misrata. Meine Aufgabe war es zu erkunden, wie dort die Versorgung von Flüchtenden und Binnenvertriebenen aussieht.

Hast du ein Muster, dem du folgst, um Entscheidungen zu treffen?

Die strategischen Entscheidungen, die zu treffen sind, haben oft extreme Konsequenzen. Das geht so weit, dass ein ganzes Projekt eröffnet oder geschlossen wird oder man sich um die Sicherheit der Mitarbeiter fürchten muss. Ich habe früh gelernt, dass es die eine ideale Entscheidung nicht gibt. Es sind immer Kompromisse. Ich versuche, vor jeder Entscheidung mit so vielen Mitarbeitern zu sprechen wie nur möglich. Und trotzdem ist es am Ende immer nur der bestmögliche Kompromiss. Was Sicherheitsentscheidungen angeht, so gibt es auch hier nie eine absolute Sicherheit, sondern bestenfalls eine verhandelte Sicherheit, die einem von den Konfliktparteien zugesichert wird.

Inwieweit bindest du dein Team in Entscheidungen mit ein?

Wir fördern bei Ärzte ohne Grenzen eine offene Debattenkultur. Im Idealfall soll nicht der größte Häuptling im Raum entscheiden was passiert, sondern das beste Argument. Das leben wir soweit es geht, aber mit bestimmten Limitationen. Beispiel: Thema Sicherheit – Fortbewegung, Evakuierung, Rückzug, etc. – das sind immer Top-Down-Entscheidungen mit klarer Struktur, die müssen schnell gehen und da können wir nicht lange diskutieren – zumindest nicht vorher. Wir hatten eine Situation im Jemen, bei der nach einem ruhigen Tag am Abend plötzlich mehrere junge Männer mit Schussverletzungen zu uns ins Krankenhaus eingeliefert worden sind. Es schien also in der Umgebung eine Massenschießerei stattzufinden. Als wir gerade dabei waren, die Menschen zu behandeln, hörten wir im Nebenraum der Rettungsstelle eine Schießerei. Da musste ich dann in Sekunden eine Entscheidung zwischen unserer Sicherheit und dem Überleben der Patienten treffen. Nicht einfach. Die Schießerei konnte glücklicherweise schnell beendet werden. Und trotz diesem massiven Sicherheitszwischenfall haben wir uns nach vielen Gesprächen dazu entschlossen, das Projekt fortzusetzen. 

Wie schaffst du es, dich jedes Mal wieder neu auf eine Situation einzulassen, ohne irgendwann selbst die Hoffnung zu verlieren?

Mir wird jedes Mal wieder klar, wie privilegiert ich bin, helfen zu können und dass die Menschen vor Ort dieser Situation dauerhaft ausgesetzt sind, während ich selbst nur für kurze Zeit. Was mich am meisten verzweifeln lässt, sind die von Menschenhand gemachten Konflikte, weil es gerade hier Lösungsvorschlägen bedarf, die das Leid der Menschen lindern können; die aber in den Schubladen der Politiker bleiben. Ärzte können keine Konflikte lösen und die Politik gibt sich machtlos.

Was hast du aus deinem Studium in Witten mitgenommen?

Ich denke, was in der Uni entwickelt wird, ist eine selbstständige Debattenkultur und ein Eigenengagement mit einem hohen Grad an Selbstorganisation, das von Anfang an gelebt wird. Darüber hinaus war immer der Faktor Mensch und ein gewisser Idealismus präsent. Wenn die Sozialdynamik im Semester aber nicht gepasst hat, dann lief auch das ganze Projekt nicht. Ich erinnere auch weniger konstruktive Situationen, wenn eine einzelne Person die Gruppendynamik sprengte.

Was hat Witten von deinen vorherigen Stationen unterschieden?

Mich beindruckte in Witten, wie vernetzt hier alle schon dachten, vor allem dank des Problemorientierten Lernen. Ich hatte in Greifswald und Berlin immer nur einzelne Fächer für sich gelernt. Die Faszination beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Mir wurde geneidet, dass ich strukturiert und gründlich nach staatlichem Lehrplan Medizin gelernt hätte. Auf der anderen Seite hatte ich das patientenorientierte, vernetzte Denken noch nicht verinnerlicht wie meine Kommilitonen, aus meiner Sicht ist das die wichtigere Perspektive für einen angehenden Arzt. 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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