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Blog Universität Witten-Herdecke | Behindertenorientierte Zahnmedizin

Einmalig in Deutschland: Die behindertenorientierte Zahnmedizin an der Universität Witten/Herdecke

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Andreas Schulte, dem Inhaber des einzigen Lehrstuhls mit diesem Spezialgebiet in Deutschland, zum 3. Dezember, dem internationalen Tag der Menschen mit Behinderung.

Acht Millionen Menschen in Deutschland haben laut statistischem Bundesamt eine schwere Behinderung, also knapp ein Zehntel der Bevölkerung. Es gibt keine genauen Zahlen, aber viele von ihnen können aufgrund der Einschränkungen nicht oder eben nicht gut genug ihre Zähne putzen. Oder, um es etwas genauer zu sagen: nicht eigenverantwortlich für ihre Mundhygiene sorgen. „Ich bin jetzt seit rund 40 Jahren als Zahnarzt auf Menschen mit Behinderungen spezialisiert“, sagt Prof. Dr. Andreas Schulte, Inhaber des Lehrstuhls für behindertenorientierte Zahnmedizin an der Universität Witten/Herdecke (UW/H). Er sehe es als positiv an, dass die Zahngesundheit bei allen Menschen in Deutschland besser werde und dass dies etwas zeitversetzt auch bei der Gruppe der Menschen mit Behinderung passiere. „So schlimm wie früher, als wir oft sehr viele schwarze Stümpfe im Mund gesehen haben, ist es eben heute nicht mehr. Da hat sich Gott sei Dank vieles verbessert.“

Er behandelt mit seinem kleinen Team ca. 1000 Menschen pro Jahr, die meisten mit einer geistigen Behinderung; aber auch Menschen nach Schlaganfällen, Traumata oder Querschnittslähmungen kommen in die Spezialambulanz der Zahnklinik. „Die allermeisten unserer Patientinnen und Patienten haben eine geistige Behinderung, wie z. B. das Down-Syndrom, es gibt viele Fälle aus dem Spektrum der autistischen Störungen und dann sehen wir auch viele Menschen mit einem fetalen Alkoholsyndrom, wo die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Dabei kann für das Baby bereits der erste Tropfen Alkohol der eine Tropfen zu viel sein“, berichtet Prof. Schulte.

 

Die Zusammenarbeit zwischen Zahnärzt:in und Patient:in kann von einer Sekunde auf die andere enden

Das eigentliche Problem bei der Behandlung eines Menschen mit Behinderung beginnt beim Aufmachen des Mundes. „Was für einen Menschen ohne Behinderung beim Zahnarztbesuch ganz einfach ist – die Zusammenarbeit mit dem Zahnarzt oder der Zahnärztin –, das ist eben in unserem Behandlungsalltag das erste große Hindernis“, schildert Prof. Schulte den schwierigen Zugang zum Patienten bzw. zur Patientin mit Behinderung. Er muss dann die Ruhe bewahren, sich auf sein Gegenüber einlassen, auch ohne viele Worte klarmachen, dass nichts Schlimmes passieren wird. „Wir müssen immer flexibel bleiben, wir haben schon im Stehen auf dem Flur oder auf dem Parkplatz im Auto Untersuchungen durchgeführt, weil die Patientinnen oder Patienten partout nicht ins Zimmer und auf den Behandlungsstuhl wollten.“ Und dann geht es um kleine Schritte: Nicht gleich den Bohrer rausholen, sondern mit einer kleinen Zahnreinigung anfangen. „Wir arbeiten viel mit Ablenkungen, lassen Musik laufen oder Videos“, beschreibt Prof. Schulte die kleinen Tricks. „Aber die Mitarbeit unserer Patienten und Patientinnen ist auch immer eine Frage von Tagesform und kann von einer Sekunde auf die andere zu Ende gehen.

  

Vollnarkose oder lokale Betäubung?

Bei vielen Menschen der Allgemeinbevölkerung löst der Anblick von Spritze und Bohrer Angst aus. Für Menschen mit Behinderungen gilt dies noch mehr, weil sie alle und ganz besonders die Menschen mit Autismus vor Neuem und Ungewohntem zurückschrecken. „Darum brauchen wir eben sehr viel mehr Zeit, um uns an diese Maßnahmen langsam mit den Patientinnen und Patienten gemeinsam ranzutasten. Das will behutsam umgesetzt werden. Wir arbeiten dann auch mit einfachen Umschreibungen, indem wir sagen, dass der Zahn jetzt was zum Einschlafen bekommt oder dass wir kleine Eiskügelchen ins Zahnfleisch tröpfeln. Aber wir kommen schon ans Ziel und können eben viele Zähne erhalten“, sagt Prof. Schulte.

 

Aufnahmestopp und Abrechnungsfragen

Es ist dabei gar nicht so einfach, eine Behandlung für einen Menschen mit Behinderung zu bekommen. Sie dauert sehr viel länger, wird aber von den Krankenkassen nicht besser abgerechnet. „Darum gibt es nicht viele Zahnärzte oder Zahnärztinnen, die so eine Behandlung anbieten können und wollen. Und auch wir müssen immer wieder einen Annahmestopp für neue Patienten und Patientinnen verhängen, weil wir mit dem kleinen Team nicht alle Menschen mit Behinderung aus dem Ruhrgebiet versorgen können“, bedauert Prof. Schulte die Situation.

Die Wittener Spezialisten kommen aber noch an eine andere Grenze: Es gibt in der Zahnklinik keine Bettenstation, wo die Behandelten nach einer Vollnarkose überwacht werden können. „Wir haben zwar einen Aufwachraum, aber es gibt eben keine Überwachung wie auf einer Intensivstation. Unsere Patientinnen und Patienten können wir in Vollnarkose nur ambulant behandeln und das schränkt die Zahl der Behandlungen sehr ein“, beschreibt Prof. Schulte einen Missstand, für den er vor Ort an der Universität-Zahnklinik noch keine abschließende Lösung gefunden hat. Erfreulicherweise können Einzelfälle durch Kooperationen z. B. mit umliegenden Kliniken im Ruhrgebiet versorgt werden. Die Übernahme der dabei entstehenden Kosten für die zahnärztlichen Tätigkeiten ist jedoch immer noch ein Problem.

Aber erfreulicherweise betreffen diese Probleme nur einen eher kleinen Teil der Patient:innen: Als einen Erfolg für sein Konzept sieht Prof. Schulte nämlich, dass in Witten nur 10% der Eingriffe in Vollnarkose erfolgen, 90 % der Eingriffe können im Wachzustand durchgeführt werden. Und das sei auch gut so, denn es gäbe eben doch ein Restrisiko bei jeder Narkose und das gelte es zu gering wie möglich zu halten.

  

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