Die Transformation hat längst begonnen
Wie uns alternative Organisationen Wege aus der Krise weisen
Die multiplen und langanhaltenden Krisen unserer Zeit zeigen, dass sich vieles ändern muss. Wir brauchen mehr als bloße Anpassungen, sondern einen radikalen Wandel unserer Lebensweise. Das betrifft auch – und insbesondere – unsere Art des Wirtschaftens.
Unsere Wirtschaftsweise orientiert sich bislang maßgeblich an ökonomischen Zielen. Es geht vorrangig darum, Kosten zu minimieren und Umsätze und Gewinne zu maximieren, ohne dabei die teils katastrophalen Wirkungen auf die Gesellschaft, die Tiere und den Planeten zu berücksichtigen. Zwar wird auf der einen Seite zunehmend über die Wichtigkeit alternativer Ziele diskutiert, und Themen wie Diversität und Gleichberechtigung, Demokratisierung von Arbeitsabläufen und ökologische Nachhaltigkeit gewinnen an Bedeutung. Auf der anderen Seite leiden jedoch weiterhin viele Menschen unter einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung und haben geringe Mitspracherechten an unternehmerischen Entscheidungen. Viele von ihnen werden benachteiligt und sogar ausgebeutet, sowohl in fernöstlichen Produktionsländern als auch in Europa. Zudem werden dem Planeten weiterhin nicht erneuerbare Ressourcen in zu hohem Maße entnommen, Flüsse und Gewässer verunreinigt und Wälder zerstört.
All dem liegt, so sind sich insbesondere kritische Organisationsforscher:innen, Soziolog:innen und Politikwissenschafter:innen einig, ein systemisches Problem zugrunde. Das System des gegenwärtigen Kapitalismus setzt Anreize, die planetaren und gesellschaftlichen Grenzen wirtschaftlichen Handelns nicht zu berücksichtigen. Wir brauchen also dringend eine Alternative zur gegenwärtigen Art kapitalistischen Wirtschaftens. Es geht um nichts weniger als eine umfassende Transformation unseres Wirtschaftssystems.
Warum die Transformation eine solche Herausforderung ist
Beginnen wir zunächst mit einer schlechten Nachricht: Diese Aufgabe ist außerordentlich komplex, stellt sie doch unsere Art des Lebens und Wirtschaftens grundlegend infrage. Angesichts des Ausmaßes erforderlichen Wandels ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen zurückziehen und die Augen verschließen. Sich tagtäglich mit katastrophalen Krisen auseinanderzusetzen oder gar das eigene Handeln zu hinterfragen, ist schließlich kaum auszuhalten. Noch dazu scheint das eigene wirtschaftliche Handeln kaum eine Wirkung zu haben auf den Wandel eines gesamten Systems. Viele zweifeln, welchen Beitrag sie zur Transformation leisten können: Können und wollen sie ihre gewohnte Teilhabe am wirtschaftlichen Leben durch Erwerbsarbeit, Unternehmertum, Konsum überhaupt ändern? Und was ist mit jenen, die diese Wahl nicht haben?
Erschwerend kommt hinzu, dass die „Rezepte“ für eine gerechte und umweltbewahrende Art des Wirtschaftens nicht offen auf dem Tisch liegen. Es ist nicht offensichtlich, wie die Alternativen aussehen, die ein demokratisches, egalitäres und ökologisch nachhaltiges Wirtschaftssystem hervorzubringen vermögen. Und so wird weiterhin primär über die existenziellen Probleme gesprochen, die der Mehrheit mittlerweile bekannt sind, und doch viel zu wenig über mögliche Lösungsansätze. Weit verbreitet sind daher Zukunftsängste, Sorgen, Resignation und Mutlosigkeit. Dies sind allesamt jedoch keine guten Voraussetzungen für einen radikalen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft.
Wo wir mögliche Lösungen finden können
Kommen wir nun zu einer guten Nachricht: Es gibt bereits eine Vielzahl von Organisationen und Initiativen, die Wirtschaft radikal anders betreiben. Sie zeigen, dass man sich in Konsum-, Beschaffungs-, Produktions- und Distributionsprozessen sehr wohl primär an alternativen moralischen Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität oder Umweltbewahrung orientieren kann. Die Liste entsprechender Beispiele ist lang: gemeinwohl- und postwachstumsorientierte Unternehmen, solidarökonomische Organisationen und Kooperationen wie die solidarische Landwirtschaft, gemeinnützige Genossenschaften, Tauschbörsen und Zeitbanken, Transition Town-Initiativen oder Lebensgemeinschaften wie Ökodörfer. Darüber hinaus gibt es immer mehr moralisch orientierte Unternehmer:innen, die sich zwar nicht unmittelbar mit alternativen Wirtschaftsmodellen wie Gemeinwohl-Ökonomie (Felber 2018) oder Postwachstum (Schmelzer & Vetter 2019) identifizieren, aber dennoch in ihrem wirtschaftlichen Handeln radikal anders agieren. Sie orientieren sich ganz bewusst nicht an herkömmlichen ökonomischen Werten, sondern streben "lediglich" nach einem Auskommen, das ein gutes Leben für alle im Einklang mit den planetaren Grenzen ermöglicht.
Organisationen und Initiativen wie diese dienen als wichtige Vorbilder. Sie leben bereits heute alternative Wirtschaftsweisen vor und zeigen in ihren täglichen Handlungsprozessen, dass Visionen alternativer Zukünfte tatsächlich realisierbar sind. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen zunehmend als Präfiguration und präfiguratives Organisieren bezeichnet (z. B. Monticelli 2022, Schiller-Merkens 2022). Damit soll betont werden, dass Ideale einer alternativen Wirtschaft nicht bloß reine Utopien sind, sondern „real“ (Wright 2010) werden können.
Was das für die Wissenschaft bedeutet
Präfigurative Organisationen vermögen Menschen Mut, Zuversicht und Hoffnung zu verschaffen, Dinge anders anzugehen und neue Formen wirtschaftlichen Handelns auszuprobieren. Sie können inspirieren und weiteres visionäres Handeln anregen, und gelten daher als elementare Bausteine einer fundamentalen Transformation unserer Art des Lebens und Wirtschaftens. Umso wichtiger ist es, sie sowohl in der Praxis als auch in der Forschung viel stärker in den Blick zu nehmen.
Wir sollten ihre wirtschaftlichen Prozesse näher erforschen, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie ihre alternativen Praktiken aussehen und welche alternativen Formen des Organisierens sie entwickeln. Auch gilt es zu verstehen, wie präfigurative Organisationen die alltägliche Herausforderung meistern, eingebettet in ein Wirtschaftssystem zu agieren, dessen Anforderungen den eigenen Wertvorstellungen entgegenstehen, und das sie trotz ihrer unvermeidlichen Einbettung mit dem eigenen Handeln radikal ändern wollen. Wie gehen sie mit diesen Herausforderungen und den unvermeidlichen Konflikten um? Und wie organisieren und mobilisieren sie über ihre eigenen Organisationsgrenzen hinaus den Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft? Mein jüngst erschienener Artikel „Prefiguring an Alternative Economy: Understanding Prefigurative Organizing and its Struggles“ bietet einen konzeptionellen Rahmen, um diese Fragen näher zu erforschen. Er zeigt auf, was alternatives und präfiguratives Organisieren bedeutet und welche Herausforderungen damit einhergehen. Unter diesem Link ist er frei zugänglich.
Angesichts der Hoffnungs- und Mutlosigkeit, mit der viele Menschen den multiplen Krisen begegnen, ist es dringend an der Zeit, zu zeigen, dass ein positiver radikaler Wandel möglich ist und bereits an vielen Stellen vorgelebt wird. Uns Wissenschaftler:innen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Wenn wir verstärkt präfigurative Organisationen erforschen, ihre Erfolgsgeheimnisse lüften und sichtbar machen, können wir zeigen: Die Transformation hat längst begonnen.
Literaturhinweise:
Felber, Christian 2018. Gemeinwohl-Ökonomie. München: Piper.
Monticelli, Lara (ed.) 2022. The Future is Now: An Introduction to Prefigurative Politics. Bristol: Bristol University Press.
Schmelzer, Matthias & Vetter, Andrea 2019. Degrowth/Postwachstum: Zur Einführung. Hamburg: Junius.
Wright, Erik Olin 2010. Envisioning Real Utopias. London: Verso. (deutsche Ausgabe: Reale Utopien: Wege aus dem Kapitalismus. Suhrkamp 2017.)
Über die Autorin
Dr. Simone Schiller-Merkens ist Habilitandin am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung an der Universität Witten/Herdecke. Sie interessiert sich für die soziale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere für Prozesse alternativen Handelns "von unten".
In ihrer wirtschafts- und organisationssoziologischen Forschung befasst sie sich beispielsweise mit sozialen Bewegungen und ihrer Rolle für die Entstehung moralischer Märkte, mit moralischen Unternehmern und ihren Imaginationen der Zukunft in Krisenzeiten oder mit präfigurativen Organisationen und ihren Herausforderungen alternativen Handelns.
Ein herzlicher Dank geht an Lucy Mindnich für die redaktionelle Unterstützung.
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