Direkt zum Inhalt der Seite springen

Blog Universität Witten-Herdecke | Wie Eltern mit ihren Kindern über den Ukraine-Krieg sprechen können

„Man muss nicht den Anspruch haben, auf jede Frage eine Antwort zu haben“

Interview: Wie Eltern mit ihren Kindern über den Ukraine-Krieg sprechen können

Wie können Eltern mit ihren Kindern über den Ukraine-Krieg reden – und wie viel können sie ihnen dabei zumuten? Darüber haben wir mit Ulrike Willutzki, Aleksandra Kaurin und Sarah Steden vom Department für Psychologie und Psychotherapie der Universität Witten/Herdecke gesprochen. Sie erklären, wie Familien in diesen schwierigen Zeiten psychisch stark bleiben können, warum sich die Verarbeitung potenziell traumatischer Ereignisse von Kindern und Erwachsenen unterscheidet und wie sie mit einem Netzwerk aus Psychotherapeut:innen Geflüchtete unterstützen wollen.

 

Der Ukraine-Krieg ist schon für Erwachsene überwältigend. Wie können ukrainische Eltern mit ihren Kindern über den Krieg und ihre Fluchterfahrungen sprechen?

Aleksandra Kaurin: Gerade zu Beginn des Angriffkrieges haben sich Kinder, vor allem jene in Deutschland, große Sorgen gemacht und hatten Angst davor, dass vielleicht auch ihr Vater in den Krieg ziehen muss. Bei Gesprächen mit diesen Kindern gibt es zwei ganz wichtige Aspekte. Auf der einen Seite: Was erzählen wir den Kindern? Wie können wir die Informationen kindgerecht vermitteln? Auf welche Weise erklären wir, dass es jetzt diesen Krieg gibt und dass Menschen darunter leiden müssen? Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, sich selbst zu betrachten und sich zu fragen: Wie geht es mir und wie spreche ich mit meinem Kind darüber?

Man muss nicht den Anspruch haben, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Oft geht es gar nicht darum, jedes Detail aufzuarbeiten, sondern gerade bei Kindern und Jugendlichen darauf zu achten, das Geschehen in Perspektive zu rücken: Wie geht es dir damit? Welche Ängste hast du? Was glaubst du, könnte hier passieren? Die Antworten können wir ruhig auch ein Stück weit stehen lassen, nach dem Motto: Das sind jetzt erstmal Gedanken, die du hast, aber auch nicht mehr. Jetzt bist Du in Sicherheit, ich kümmere mich um Dich.

Ein großes Dilemma, vor dem Eltern oft stehen, ist die Frage: Sage ich den Kindern überhaupt, dass bzw. was Krieg ist oder nicht? Bin ich ehrlich oder verschleiere ich es? Ich persönlich glaube, dass es nicht gut ist, die Tatsachen zu verschweigen, weil die Kinder sie trotzdem mitbekommen und im schlimmsten Fall nicht wissen, wen sie ansprechen sollen, um einen Umgang mit den Ereignissen zu finden.

 

Was raten Sie Eltern, die in Deutschland leben?

Ulrike Willutzki: Selbstverständlich ist es wichtig, dass die Kinder informiert sind und wissen: Es herrscht Krieg. Gleichzeitig sollte betont werden, dass wir in Deutschland nicht unmittelbar betroffen sind – und wir gleichzeitig die Menschen, die betroffen sind, unterstützen. Es ist auch sinnvoll zu betonen, dass solch ein Krieg nicht jeden Tag passiert und auch nicht überall. Die Sicherheit, die hier ja auch tatsächlich besteht, kann durchaus akzentuiert werden. Wichtig ist, den Kindern ein Gesprächsangebot zu machen und zu zeigen, dass sie mit Fragen und Sorgen jederzeit kommen können.

Kaurin: Auch hier ist die Selbstwahrnehmung der Eltern und die eigene Stabilität entscheidend: Wie geht es mir damit? Welche Sorgen habe ich? Die Kinder orientieren sich an unserer Reaktion als Erwachsene, deshalb ist diese viel wichtiger als die Vermittlung der Informationen. Wenn ich panisch, rast- und hilflos bin, übertrage ich das auch auf das Kind.

Sarah Steden: Auch müssen die Eltern nicht alles selbst erklären und vermitteln können. Es gibt viele gute Angebote, auf die man zurückgreifen kann – etwa von öffentlich-rechtlichen Sendern oder von Nachrichtenkanälen für Kinder, wo die Informationen gut aufbereitet sind. Diese können sich Eltern mit ihren Kindern zusammen anschauen und anschließend darüber sprechen.

Informationsbrief zum Gespräch: Krieg in der Ferne – Angst zuhause

Um Familien eine Unterstützung anzubieten, haben Professor:innen für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und -psychotherapie einen Elternbrief mit hilfreichen Tipps zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt, der hier heruntergeladen werden kann.

Inwiefern unterscheidet sich die Verarbeitung traumatischer Ereignisse von Kindern und Erwachsenen?

Kaurin: Das ist ein sehr interessantes Thema, zu dem auch Unklarheiten in der Forschung bestehen. Wir wissen, dass Kinder sich bei der Bearbeitung von Ereignissen, die potenziell traumatisch sein können, stark an wichtigen Bezugspersonen orientieren.

Eine wichtige Studie ist Anfang der 2000er Jahre erschienen. Befragt wurden Kinder und Mütter, die während des Golfkriegs Raketenangriffen ausgesetzt waren. Deutlich wurde, dass die kindliche Symptomausprägung maßgeblich von der psychischen Belastung der Mütter abhing. Kinder, deren Müttern es am schlechtesten ergangen war, entwickelten die meisten klinisch-relevanten Symptome, wohingegen Kinder von Müttern, die weiterhin funktionsfähig waren, die wenigsten Symptome entwickelten. Eltern vermitteln den Kindern Sicherheit und Geborgenheit und bieten Orientierung – wenn dies wegfällt, hat das natürlich auch eine Auswirkung auf die Kinder.

Das bedeutet auch, dass Kindern eine potenziell traumatische Erfahrung nicht unbedingt eins zu eins selbst erlebt haben müssen, um Verunsicherung und tiefgreifende Ängste zu entwickeln – es reicht, dass sie sich ein traumatisches Ereignis vorstellen und sehen, wie es ihren Eltern damit geht. Deswegen ist es bei Kindern auch manchmal schwer zu ermitteln, was für sie das eigentlich traumatische Ereignis war: War es der Bombenanschlag und die eigene Verletzung oder der Moment, in dem sie dachten, dass eine ganz wichtige Bezugsperson verwundet wurde?

 

Wie äußert sich eine Belastung konkret?

Kaurin: Bei Kindern sind die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung nicht so eindeutig definiert und die Symptome nicht so klar erkennbar wie bei Erwachsenen. Sie hängen ganz stark vom Entwicklungsstand eines Kindes oder Jugendlichen ab: Teilweise beobachten wir, dass es Entwicklungsrückschritte gibt und sich z.B. Kinder, die die Sauberkeitserziehung durchlaufen haben, wieder einnässen oder einkoten oder es zu Schlafstörungen oder aggressiven Durchbrüchen kommt, die vorher nicht da waren. Manchmal wird das Spiel weniger lustbetont und stattdessen repetitiv – also wiederholend. Wegen dieser nicht so eindeutig zuordenbaren Symptome wirkt es teilweise so, als würden Kinder seltener klinisch relevante Belastungsstörungen entwickeln, dabei liegt dies nur daran, dass unsere Kriterien nicht entwicklungssensitiv genug sind. Auch deshalb hilft reden und nachfragen – um genau solche ungewohnten Verhaltensweisen in eine Perspektive rücken zu können.

Willutzki: Kinder zeigen oft allgemeine Belastungsreaktionen, die sie nicht gut verbalisieren oder auch in einen konkreten Kontext rücken können. Kinder haben aufgrund fehlender Erfahrungen mit solchen Ereignissen keine Konzepte für sie, diese Erlebnisse sind vor allem unheimlich, ansonsten aber diffus und schlecht. Sicherheit im sozialen Nahraum und Raum für auch unklare und erst mal scheinbar nicht verständliche Äußerungen ist dann wichtig.

Inwiefern prägen frühkindliche Traumata das spätere Leben?

Kaurin: Potenzielle Traumata in der Kindheit wiegen viel schwerwiegender als im Erwachsenenalter. Im Laufe der Kindheit entwickeln sich die Konzepte von Sicherheit oder Geborgenheit. Wenn diese so früh erschüttert und keine Alternativen geboten werden, ist das natürlich viel schwerwiegender als wenn erfahrene Erwachsene ein potenziell traumatisches Ereignis erleben, weil sie in ihrem Leben schon einige Strategien im Umgang mit Krisen erproben konnten. Aber, ein hilfreiches und unterstützendes Umfeld kann viel abpuffern.

Willutzki: Das betrifft nicht nur die Konzepte von Sicherheit und Geborgenheit, sondern auch das Konzept Krieg. Erwachsene können sich darunter ein abgegrenztes Ereignis vorstellen – das können gerade jüngere Kinder nicht, weil sie nicht wissen, was das bedeutet und Distanz bzw. Nähe vielleicht gar nicht einschätzen können. Damit wirkt der Krieg für Kinder diffuser und auch unheimlicher. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, Begrenzungen solcher Ereignisse und klare Unterschiede zur Lebenssituation des Kindes, das hier nachfragt, aufzuzeigen, um das Konzept für die Kinder begrenzbar in der Vorstellung zu machen.

Ich möchte betonen: Traumata im Kindesalter sind in jedem Fall gefährlicher für die Befindlichkeit und die Entwicklung von Kindern – gleichwohl darf man nicht mechanistisch davon ausgehen, dass ein Trauma zwangsläufig einen lebenslangen „Belastungsabdruck“ hinterlässt. Menschen sind viel resilienter, als man das in der Regel meint.

 

Sie haben gemeinsam mit Kolleg:innen ein Netzwerk gebildet, um Geflüchteten psychologische Unterstützung anzubieten. Wie ist das Angebot entstanden?

Willutzki: Das Netzwerk ist in verschiedenen Gesprächen zu Beginn des Ukraine-Krieges entstanden – aus dem Bedürfnis heraus, etwas zu machen. Gemeinsam mit dem Kollegen PD Dr. Tobias Teismann von der Ruhr Universität Bochum haben wir uns bekannte Therapeutinnen und Therapeuten angeschrieben und gefragt, ob sie sich an einem ehrenamtlichen Netzwerk beteiligen möchten.

Aus den vorherigen Flüchtlingskrisen sowie aus der direkten Zusammenarbeit mit Geflüchteten wussten wir, wie schwierig es ist, die Rahmenbedingungen für therapeutische Angebote zu schaffen, weshalb viele betroffene Menschen lange Zeit keine psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen konnten.

Aus den fast 50 Rückmeldungen haben wir ein psychotherapeutisches Netzwerk gebildet, Flyer entwickelt, Übersetzungen erstellt, uns um ukrainisch- oder russischsprachige Sprachmittler:innen bemüht und Kontakt zu den medizinischen Flüchtlingshilfen bzw. psychosozialen Zentren für Geflüchtete in der Umgebung aufgenommen. Außerdem haben wir uns und unsere Therapeut:innen untereinander durch Fortbildungen und Supervisionsangebote vorbereitet.

All dies lief zunächst ehrenamtlich und nebenbei – inzwischen haben wir dank der Unterstützung durch das Präsidium der UW/H mit Sarah Steden eine Teilzeitstelle schaffen können, mit deren Hilfe wir das Netzwerk professionalisieren, Kompetenz bündeln und ausbauen können und unsere zahlreichen weiteren Ideen umsetzen können.

 

Wie wird das Angebot angenommen? Wie groß ist der Bedarf?

Willutzki: Momentan haben wir pro Woche ca. zwei Anfragen, die auch alle vermittelt werden konnten. Diese sind ganz unterschiedlich. Es sind Menschen dabei, die schon vor der Flucht nach Deutschland psychische Probleme hatten, die jetzt verschlimmert worden sind. Wir haben auch Anfragen von Personen, die selbst oder indirekt durch die Kriegserfahrungen stark belastet worden sind – insbesondere bei den Kindern und Jugendlichen zeigen sich gravierende Beeinträchtigungen. Gerade für sie ist das eine beängstigende Situation.

 

Welche Schwierigkeiten gibt es bei der therapeutischen Behandlung von Geflüchteten in der Regelversorgung?

Steden: Häufig sind die Umgebungsbedingungen so instabil, dass eine Therapie, wie wir sie mit anderen Patient:innen kennen, gar nicht möglich ist. Bei Geflüchteten grundsätzlich, nicht nur bei Menschen aus der Ukraine, kommen zusätzliche Belastungsfaktoren, so genannte Postmigrationsstressoren, hinzu: Beispielsweise durch einen unsicheren Aufenthaltsstatus, bei dem die Menschen ständig Angst haben, abgeschoben zu werden. Oder aufgrund von ungünstigen Wohnbedingungen, weil ganze Familien in Flüchtlingscamps in kleinen Zimmern untergebracht sind. Oder wenn das soziale Umfeld keine Unterstützung bieten kann, weil Freunde und Familie wegfallen und es Menschen aufgrund der Sprachbarriere schwerfällt, ein neues soziales Netz aufzubauen. Das alles sind destabilisierende Faktoren, die auch die Therapie deutlich erschweren. Häufig haben Geflüchtete keinen Zugang zu einem Therapieplatz und müssen dann mehrere Jahre darauf warten. Auch die Sprachmittlung ist eine große Hürde, weil die Kosten nicht regelhaft von der Krankenkasse übernommen werden, sondern je nach Situation beim Jobcenter oder beim Sozialamt beantragt werden muss.

Eine Studie aus dem Jahr 2020 von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, zeigt auf, dass nur jede 20. Person mit Flüchtlingshintergrund, die eine psychische Erkrankung hat, überhaupt psychotherapeutisch versorgt werden konnte. Häufig liegt dies an der eingeschränkten medizinischen Versorgung, die viele Geflüchtete haben. In der Regel ist es ja so: wenn Menschen nach Deutschland kommen, sind sie nicht über die Regelversorgung krankenversichert, sondern über das Asylbewerberleistungsgesetz. Und da der Zugang sehr eingeschränkt ist, werden nur ganz akute Erkrankungen und Schmerzzustände wirklich auch behandelt. Das macht es deutlich schwieriger, sich Unterstützung zu suchen.

Willutzki: Üblicherweise müssen alle Menschen, die neu einen Psychotherapieplatz suchen, in der Ambulanz der UWH mit einer Wartezeit von bis zu eineinhalb Jahren rechnen. Unser Netzwerk überläuft diese Wartezeiten gewissermaßen, indem den Geflüchteten sofort Hilfe angeboten wird.

 

Welche Unterschiede gibt es bei der Versorgung von Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Ländern?

Steden: Für Geflüchtete aus der Ukraine gilt die EU-Massenzustromrichtlinie, die 2001 eingeführt wurde und jetzt das erste Mal für die Geflüchteten aus der Ukraine in Kraft gesetzt wurde. Diese Richtlinie regelt nicht nur die Verteilung von Geflüchteten EU-weit, sondern auch die Sozialleistungen, auf die sie Anspruch haben. Über diese Richtlinie ist auch geregelt, dass Geflüchtete aus der Ukraine seit Anfang Juni Sozialleistungen bekommen. Dadurch haben sie im Gegensatz zu Personen, die Asylbewerberleistungen bekommen, einen uneingeschränkten Zugang zur medizinischen Regelversorgung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sprach- und Integrationskursen.

Willutzki: Durch diese Rahmenbedingungen der EU-Massenzustromrichtlinie haben die Geflüchteten aus der Ukraine auch mehr Integrationsmöglichkeiten als Geflüchtete aus anderen Ländern, die in der Regel in Massenunterkünften unterkommen, einen unklaren Aufenthaltsstatus haben, unter Ablehnungs- oder Abschiebegefahr stehen und keine Möglichkeit haben, am Arbeitsmarkt tätig zu werden, selbst wenn sie das wollen. Das sind massive Unterschiede, die sich deutlich auf die psychische Befindlichkeit und die Integration in die Gesellschaft auswirken. Auch wenn Geflüchtete aus anderen Ländern vielleicht gute Gründe haben sich darüber zu freuen, dass sie nicht mehr in dem Land sind, aus dem sie geflohen sind, werden sie unter den Bedingungen des Asylbewerberleistungsgesetz häufig nicht das Gefühl haben, dass sie hier wirklich willkommen sind.

Steden: Die Solidarität mit der Ukraine, die wir in der Gesellschaft spüren und erfahren, ist extrem wichtig und stärkt die Menschen, die nach Deutschland geflohen sind. Wir sollten diese Entwicklungen in den nächsten Monaten genau beobachten und analysieren, welchen positiven Einfluss die deutlich besseren Rahmenbedingungen auf die Integration  der Menschen aus der Ukraine haben. Ich hoffe sehr, dass sich dann auch entsprechend die Bedingungen für Geflüchtete aus anderen Ländern verbessern.

Psychosoziale Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine

Mehr Informationen zur psychosozialen Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine finden Sie auf der Website des Zentrums für Psychische Gesundheit und Psychotherapie (ZPP) der Universität Witten/Herdecke.

Schreibe einen Kommentar
* Pflichtfelder

Kommentare

Keine Kommentare vorhanden.