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Blog Universität Witten-Herdecke | Wie konnte es zum Ukrainekrieg kommen?

Wie konnte es zum Ukrainekrieg kommen?

Konfliktforscher Prof. Nils-Christian Bormann erläutert Hintergründe zum aktuellen militärischen Konflikt aus politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive. Im nächsten Teil stellt er Prognosen zum weiteren Verlauf vor.

Hinweis: Der folgende Text basiert auf der Faktenlage zum 1. März

Es ist auch nach zahlreichen Berichterstattungen nicht einfach zu verstehen, was Wladimir Putin dazu veranlasst hat, die Ukraine anzugreifen. Um den Konflikt besser begreifen zu können, lohnt es sich, die russische Innen- und Außenpolitik genauer zu betrachten.

Innenpolitische Gründe

Putins innenpolitischer Antrieb für den Krieg ist der eigene Machterhalt. Dieser ist durch mehrere Faktoren akut bedroht:

  1. Die größte Gefahr für seine Herrschaft ist ein plötzlicher Volksaufstand, dem sich sein Militär nicht entgegenstellt oder sich sogar anschließt. Solche Aufstände sind vielfach nicht vorhersehbar, wie der arabische Frühling oder auch die Revolutionen gegen die kommunistischen Machthaber 1989 gezeigt haben.
  2. Die wirtschaftliche Lage in Russland ist miserabel und
  3. aufgrund der Covid-Pandemie hat es in Russland hohe Todeszahlen gegeben.
  4. Bei der russischen Parlamentswahl im vergangenen Jahr erhielt Putins Partei Einiges Russland weniger Zuspruch als erwartet.
  5. Volksaufstände in Nachbarländern wie Kasachstan oder Weißrussland beunruhigen Putin zusätzlich.

Er erwartet einen aus dem Krieg erwachsenden Popularitätsschub, der sich aus nationalistischem Hochgefühl sowie einer Belagerungsmentalität speist. Schon die Angriffe auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 haben dazu geführt, dass Putins Beliebtheit bei russischen Bürgerinnen und Bürgern anstieg. Um diesen Effekt zur vollen Geltung zu bringen, stellen die staatlich gesteuerten Medien die NATO als Aggressor dar, gegen den sich Russland wehren muss. Putin ist in dieser Darstellung der Beschützer des russischen Volkes vor den westlichen Mächten und dem „Naziregime“ in der Ukraine. Der erwartete schnelle militärische Sieg Russlands gegen die Ukraine sollte Russlands und Putins Stärke unterstreichen. Russinnen und Russen hätten so stolz auf ihre Regierung und ihren Staat sein können, der als vom Westen gegängelter „Underdog“ militärisch erfolgreich dastünde.

Darüber hinaus ist zu vermuten, dass Putin seine Entscheidungen auf Basis unvollständiger Informationen getroffen hat. Ähnlich wie beim Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ erzählen Putins Berater ihm das, was er hören möchte. Dies geschieht aus Angst vor einer Bestrafung, sollte man eine Aussage treffen, die dem Diktator nicht gefällt. So kann es durchaus sein, dass Putin viel optimistischer in Hinsicht auf die Schlagkraft der russischen Armee und die Erfolgschancen seines Angriffs war als es angemessen gewesen wäre. Dieser überhöhte Optimismus könnte ebenfalls dazu geführt haben, dass er die Kosten seines Krieges unterschätzt.

Außenpolitische Gründe

Aus der außenpolitischen Sicht gibt es zwei vorrangige Erklärungen für Putins Motivation zum Krieg. Die eine fokussiert die nationalistische Motivation Putins, die Idee, dass alle Russinnen und Russen in einem russischen Staat leben sollen. Die zweite, das sogenannte commitment problem, deutet darauf hin, dass ein Krieg für Russland zum jetzigen Zeitpunkt einen langfristigen Vorteil im Vergleich zu einer abwartenden Haltung bringt.

Putins Nationalismus ist kein Geheimnis. Die Ansicht, dass Teile der Ukraine oder sogar das gesamte Land zu Russland gehörten, hat er in Aufsätzen und Gesprächen mit westlichen Politikerinnen und Politikern mindestens seit 2008 kundgetan. Viele Beobachterinnen und Beobachter, darunter sehr viele Mitglieder westlicher Regierungen, haben diese Aussagen trotz der Invasion der Krim und der Ostukraine in 2014 und der militärischen Intervention in Georgien in 2008 nicht ernst genommen.

Hingegen haben die Bürgerinnen und Bürger sowie Regierungen Osteuropas schon lange vor russischer Militäraggression gewarnt. Dieser ethnisch-basierte Nationalismus mag für manche Menschen in der heutigen Zeit fehl am Platze wirken. Seine anhaltende Popularität, auch bei Bürgerinnen und Bürgern westlicher Länder, wurde sowohl während der Corona-Pandemie als auch bei der Aufnahme vieler Flüchtlinge 2015 deutlich. Als Erklärung für den Einmarsch in die Ukraine ist die nationalistische Ideologie hinreichend, da sie keinen Platz für andere nationalistische Erzählungen, wie die ukrainische, lässt und somit auch keinen Raum für Kompromisse.

Hinter der zweiten Erklärung steckt die Idee, dass sich Russlands Machtposition gegenüber der Ukraine im Speziellen und dem Westen im Allgemeinen sowohl kurz- als auch langfristig verschlechtern wird. In den vergangenen Jahren konnte die Ukraine ihre Armee modernisieren und hat große wirtschaftliche Unterstützung aus Europa und den USA erfahren. Spekulationen besagen, dass sich die ukrainische Regierung darauf vorbereitete, den bis vor kurzem von Separatisten und russischen Spezialkräften gehaltenen Teilen von Donbas und Luhansk zurück zu erobern. Diese Möglichkeit konnte Russland seiner Ideologie folgend nicht akzeptieren und versucht nun die ukrainische Armee zu zerstören, bevor diese ansonsten in naher Zukunft deutlich widerstandsfähiger wäre. Die Gefahr war für Putin zu groß, dass die ukrainische Regierung wieder die volle Kontrolle über die von den Separatisten gehaltenen Gebiete erlangt hätte und somit ein NATO Beitritt möglich geworden wäre.

Langfristig gesehen ist Russlands militärische Position gegenüber der NATO aktuell stärker als sie es in der Zukunft sein könnte. Die osteuropäischen Mitglieder der NATO und der EU, und seit dem 27. Februar 2022 auch Deutschland, werden in den nächsten Jahren massiv aufrüsten. In zehn Jahren werden viele EU-Staaten vermutlich weniger Gas und Öl aus Russland importieren, was zu einer relativen Schwächung Russlands führen wird. Aktuell sind die allermeisten westeuropäischen Regierungen nicht in der Lage oder nicht willens, Russland militärisch abzuschrecken. Würde sich die EU jedoch dazu durchringen eine europäische Armee zu bilden, wozu es bekanntlich Pläne gibt, würden europäische Streitkräfte deutlich stärker werden und somit gegen russische Aggressionen deutlich abschreckender wirken. Ein Angriff auf die Ukraine zum aktuellen Zeitpunkt wird jedoch voraussichtlich keine militärische Reaktion seitens der EU oder NATO herbeiführen.

In Summe hat Putin mit dem eigenen Machterhalt und einer nationalistischen Vision sowohl innen- als auch außenpolitische Gründe, die Ukraine anzugreifen. Dazu erschien aus russischer Sicht der gegenwärtige Zeitpunkt opportun, weil mit weniger Widerstand gerechnet wurde.

 

Über den Autor:

Nils-Christian Bormann ist Konfliktforscher und Professor für International Political Studies an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft an der Universität Witten/Herdecke (UW/H).

Er forscht unter anderem an den Ursachen von Instabilität in multiethnischen oder demokratischen Gesellschaften. Darüber hinaus lehrt er in den Studiengängen Philosophie, Politik und Ökonomik sowie Philosophy, Politics and Economics.

 

Zum Thema Ukraine-Krieg hat er kürzlich auch ein Interview gegeben.

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