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Blog Universität Witten-Herdecke | Ahrtal-Exkursion

„Der Schlamm ist weg. Aber die Katastrophe wird noch lange in der Region bleiben“

[This text has also been published in English. / Dieser Text ist auch in Englischer Sprache erschienen.]

Das Ahrtal ist für seine schöne Landschaft und den Weinbau bekannt. Im Jahr 2021 rückte die Region zwischen Nordrhein-Westfahlen und Rheinland-Pfalz jedoch aus ganz anderen Gründen in den Fokus: Sie wurde von einer Flutkatastrophe heimgesucht, die erhebliche Schäden anrichtete – noch heute sind die Folgen sichtbar und viele der Betroffenen haben sich auch nach über zwei Jahren nicht von der Flut erholt. Im Erfahrungsbericht nehmen uns die Studierenden Lea von Dömming und Sami Gerezghiher mit. In einem Seminar an der Uni Witten/Herdecke, das sich mit den politischen Folgen des globalen Klimawandels beschäftigt, besuchten sie die Region, um die unterschiedlichen Aspekte des Wiederaufbaus zu erkennen. Sie analysierten den politischen Umgang, betrachteten die wirtschaftliche Perspektive und setzten sich dabei auch mit Gerechtigkeitsfragen auseinander.

In unserem Philosophy, Politics, and Economics-Studium analysieren wir die Folgen des Klimawandels – politisch, wirtschaftlich und philosophisch – und haben uns daher auch mit der Flutkatastrophe 2021 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beschäftigt. In Begleitung des Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Reinhard Loske reisten wir ins Ahrtal bei Bonn. Prof. Loske setzt sich seit Jahren mit Klimapolitik auseinander und war von 1998 bis 2007 Mitglied des Deutschen Bundestages. Bei unserem Besuch (im Ahrtal) standen die Gespräche mit unterschiedlichen Menschen im Vordergrund, die die Flut miterlebt haben und sich in ihrer Rolle noch heute intensiv damit beschäftigen. 

Da wäre zum Beispiel Maximilian Kranich von der Aufbau- und Entwicklungsgesellschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler mbH. Er stellte die Bemühungen vor, in einer der am stärksten betroffenen Städte der Region eine widerstandsfähige öffentliche Infrastruktur wiederaufzubauen. Dabei gelte es, zahlreiche Herausforderungen, Akteur:innen und Interessen zu berücksichtigen. Obwohl viel Geld vorhanden sei, sei es ein ständiger Kampf, das Geld für Projekte freizusetzen. Eine der entscheidenden Fragen: Sollen wir aufbauen, was vorher war, oder sollen wir es besser machen („build back better“)? 

Wenn der Zusammenhalt bröckelt

Die Infrastruktur ist nur ein Teil des Wiederaufbaus. Alle, die wir trafen, bestätigten uns, dass die psychologische Erholung ebenso wichtig sei wie die physische. Um die psychologischen und sozialen Auswirkungen der Ereignisse zu erforschen, führte uns unsere Exkursion in die Kirche der Stadt und zu ihrem einladenden und beherzten örtlichen Pfarrer Jörg Meyerer. Er berichtete von den Bewohner:innen der Region, die ihre Solidarität in der Krise beim gemeinsamen Arbeiten und den gemeinsamen Mahlzeiten lebten. Eine der unmittelbaren Auswirkungen der Flut war, im wörtlichen und übertragenen Sinne, dass es in der Stadt keine Mauern und Zäune gab: „Man brauchte kein Geld, alles wurde geteilt.“ Doch im Laufe der Zeit begann der soziale Zusammenhalt zu bröckeln, zwei Jahre später zeigen die Ungleichheiten bei finanziellen, psychologischen und sozialen Ressourcen ihre Wirkung. Wir konnten die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen in der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler beispielhaft sehen: Manche Fassaden sehen glänzend und neu aus, andere sind seither kaputt und sich selbst überlassen.

Die privaten Bauprojekte werden von lokalen Architekt:innen wie Udo Heimermann geleitet, der uns eines seiner großen Projekte zeigte. Während die Vorderseite des Wohnhauses normal aussah, wurde in der dahinterliegenden Wohnung alles bis auf die Mauern entfernt. Heimermann erzählte uns leidenschaftlich von dem Kampf, an einer Vielzahl von Projekten parallel zu arbeiten, von denen jedes seine eigenen finanziellen und baulichen Herausforderungen mit sich bringe.

„Durch den Austausch mit den Menschen vor Ort und die immer noch sichtbaren Folgen der Flut ist eine meiner wichtigsten Erkenntnisse, dass neben dem physischen Wiederaufbau auch der psychologische ,Wiederaufbau' von großer Bedeutung ist. Dadurch wurde mir die Notwendigkeit, Handlungsmöglichkeiten für Klimaschutz zu entwickeln, noch deutlicher. Vor allem, weil die Krise global vernetzt ist und im Fall des Ahrtals schien mir, dass sie den eigenen Horizont von einer weltweiten auf eine sehr lokale Perspektive schrumpfen lässt. Was das PPE-Seminar so besonders machte, waren die unterschiedlichen Perspektiven der Menschen vor Ort, aber auch die unserer Kommilitonen. In Anbetracht all dessen werde ich diese Erfahrung nutzen, um Gespräche über Lösungen und die globale Dimension des Klimaschutzes zu fördern.“ - Louisa Duesman, PPE-Studentin

Solidarität überall

Eine Autofahrt von dort entfernt, oben in den Hügeln der Region, befindet sich der Sitz der Organisation „Helfer-Stab“, die gegründet wurde, um die Wiederherstellungsmaßnahmen nach der Flut zu unterstützen. Edna Wiechers vom Helfer-Stab und ihr Partner schilderten uns aus erster Hand die Ereignisse im Juli 2021. Die Solidarität wurde auch hier durch die große Zahl an Menschen sichtbar, die bei Hilfs- und Rettungsmaßnahmen unterstützten. Der Einsatz der freiwilligen Helfer:innen, auch wenn er aufgrund mangelnder Vorbereitung und Organisation zeitweise chaotisch verlief, sei unersetzlich gewesen, um zum Beispiel die Massen an Schlamm und Trümmern zu entfernen. Während der Helfer-Stab zunächst die spontanen Helfer:innen und Spenden koordinierte, konzentriere er sich heute auf die Vermittlung der zahlreichen Hilfsangebote an die Menschen in Not. 

„Ich bin froh, dass wir die Möglichkeit hatten, eine Exkursion zu machen und mit den örtlichen Verantwortlichen zu sprechen, denn so konnten wir die Einschränkungen und die ständigen Kämpfe sehen, die die betroffenen Menschen durchmachen, um das, was sie verloren haben, wiederaufzubauen - trotz der Hilfe, die ihnen zuteil wurde.“  - Milad Mosalanejad, PPE-Student

Voneinander lernen

Nach einem langen und anstrengenden Tag im wunderschönen Ahrtal sind wir mit gemischten Gefühlen zurück nach Witten gefahren. Einerseits hat die Emotionalität, die Solidarität und die Kraft der Menschen uns sehr bewegt, andererseits sieht man hier die Mühen, die immer mehr Menschen in naher Zukunft wegen der Klimaveränderungen werden durchmachen müssen. Eines wurde auf unserer Reise besonders deutlich: Der Schlamm ist weg. Aber die Katastrophe wird noch lange in der Region bleiben.

„Das Seminar ,PPE in der Praxis' macht seinem Namen alle Ehre und hat uns erfolgreich geholfen, die praktischen Herausforderungen zu verstehen, die bei der Anpassung an den Klimawandel auftreten. Am besten haben mir die Diskussionen mit Fachleuten aus der Praxis gefallen und ich fand es auch gut, dass Prof. Loske uns ermutigt hat, über die politischen und wirtschaftlichen Aspekte hinauszugehen und uns mit den philosophischen Grundlagen auseinanderzusetzen!“ - Angela John, PPE-Studentin

Autor:innen: Lea von Dömming, Sami Gerezghiher

Bilder: Angela John, Lea von Dömming

 

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