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Blog Universität Witten-Herdecke | „An ein Studium war nicht zu denken“

„Ich musste für meine Family da sein. An ein Studium war nicht zu denken“

Student Andreas Czwodzinski über seinen Umweg an die Uni

 

Wenn Andreas Czwodzinski von seiner Schulzeit spricht, dann ist das die Geschichte eines „schwierigen Jungen“, der nach eigener Aussage „in seiner eigenen Welt gelebt hat“. Aber es ist auch die Geschichte eines Jungen, der aufgrund seiner polnischen Herkunft Diskriminierung durch Lehrer:innen erfahren hat. „Ich war kein einfacher Mensch, aber mir wurden manchmal Dinge vorgeworfen, die frei erfunden waren.“ In der Grundschule wurde er nicht ernst genommen, gerade wenn es um schriftliche Ausarbeitungen ging. „Dadurch habe ich mich früh fehl am Platz gefühlt.“ Auch auf der Realschule suchte seine Lehrerin immer wieder nach Schwachstellen und Gründen, um ihn zu kritisieren. „Sie hat mich ab der ersten Sekunde nicht leiden können, das hat man einfach gespürt.“ Der Konflikt führte so weit, dass Andreas von der Schule flog.

Nach mehreren Schulwechseln und einer Ausbildung zum Maler und Lackierer machte er an einer Berufsschule schließlich doch noch sein Fachabitur. „Dieser Abschluss war rückblickend extrem wichtig.“ Wenn er heute von dieser Zeit erzählt, wirkt er nicht aggressiv oder vorwurfsvoll, vielmehr reflektiert und gelassen. Er wirkt wie der Typ Mensch, der sich und anderen nichts mehr beweisen muss, strahlt eine gewisse Ruhe und Zufriedenheit aus, gemischt mit einer ordentlichen Portion Nachdenklichkeit. Man merkt schnell: Er hat eine Geschichte zu erzählen.

 

„Du hast Zeit über dich und dein Leben nachzudenken“

Schicksalsschläge, wie der Tod seines Vaters, sorgten dafür, dass er in seiner Familie früh Verantwortung übernahm. „Ich musste für meine Family da sein, ich hatte es meinem Dad versprochen. An ein Studium war nicht zu denken.“ Andreas war 21, als sein Vater starb. „Auf einmal war ich in einer Situation, in der ich meiner Mutter Geld zusteckte, und für sie Sachen einkaufte, die sie sich nicht immer leisten konnte. Meinem älteren Bruder habe ich irgendwann Taschengeld gezahlt, als er studierte. Meine ganze Welt stand Kopf.“ Er schlug sich ein paar Jahre durch. „Ich hatte irgendwann genug und wollte ein ordentliches, normales Leben führen.“ Er fing an, als Busfahrer in Witten zu arbeiten und fuhr auch Reisebus: England, Italien, Frankreich. „Es war manchmal eine ungemein monotone Arbeit. Du fährst tagtäglich die gleichen Strecken. Dann die Fahrten mitten in der Nacht z. B. nach Frankreich runter und zurück. Du hast Zeit über dich und dein Leben nachzudenken. Der Wunsch nach beruflicher Veränderung war irgendwann sehr stark.“

Die Strecken, die Andreas fuhr, waren eintönig, doch aufgrund seines großen Interesses an Menschen und Geschichten zog er für sich auch etwas Positives aus dem Job: Der Bus der Linie 371 fährt von Wittens Stadtmitte zur Universität Witten/Herdecke. „Es stiegen viele interessante Persönlichkeiten ein – Studierende oder auch Dozierende der Uni. Mit der Zeit kannten wir uns und es kamen oft spannende Gespräche über Gott und die Welt zustande. Wenn wir nicht selbst miteinander ins Gespräch kamen, hörte ich bei den Fahrten zu, worüber gesprochen wurde. Wittener Studierende können ausgiebig und endlos philosophieren“, erinnert er sich lachend. Besonders in Erinnerung blieb ihm der Kontakt zu Angela Martini, ehemalige Professorin an der Uni Witten/Herdecke. „Wir führten auf den Fahrten viele Gespräche. Ich erzählte ihr auch, dass ich gerne Kurzgeschichten und lyrische Texte schreibe. Daraufhin legte sie mir die Uni ans Herz.“ 

An Theaterspielen war lange nicht zu denken

Andreas bewarb sich für ein Studium in einem der künstlerischen Studiengänge. „Das Auswahlgespräch war extrem aufregend und ungewohnt. Ich kam nicht aus der akademischen Welt, sondern aus einer Arbeiterfamilie. Dann plötzlich mehrere gestandene Professor:innen vor sich sitzen zu haben, war krass. Ich stand schon etwas neben mir.“ Für einen direkten Start ins Studium reichte es aus Sicht der Auswahlkommission nicht. „Den genauen Grund der Absage kenne ich bis heute nicht, das blieb intern. Aber ich bekam die Möglichkeit, ein Orientierungsstudium zu beginnen.“ Beim sogenannten O-Studium können Studierenden für ein Jahr die Uni unverbindlich kennenlernen und in verschiedene Angebote reinschnuppern. „Dadurch lernte ich die Werte und die Philosophie der UW/H kennen. Ich spielte Theater und führte unzählige Gespräche mit meinen Kommiliton:innen, die meine Sicht auf die Welt positiv veränderten. Bevor ich an die Uni kam, reflektierte ich meine Umwelt durch selbstgeschriebene Geschichten. An der Uni hatte ich nun einen Ort, wo ich meine Gedanken und meine Neugier auf die Welt mit anderen teilen konnte.“

Im nächsten Anlauf klappte es dann auch mit dem offiziellen Studienstart. „Den Studiengang, für den ich mich damals entschied, gibt es heute nicht mehr, aber durch das Studium fundamentale kann ich mich an der Uni weiterhin künstlerisch ausdrücken und meine Leidenschaft für das Schreiben, die Musik und darstellende Künste ausleben. Und beenden kann ich mein Studium trotzdem.“

Doch auch das Studium an der UW/H hielt Tiefschläge für Andreas bereit: Die Corona-Pandemie brach über die Welt und schob gerade den künstlerischen Bereichen einen Riegel vor. Vieles wurde ins Digitale verlegt und an Theaterspielen war lange nicht zu denken. „Meine Motivation ließ immer mehr nach und als meine Mutter zu Beginn der Pandemie verstarb, war ich nicht nur kurz davor aufzugeben, sondern ich tat es, irgendwann war mir alles egal.“

„Hier zählst du als Mensch“

Wieder waren es die Begegnungen mit Menschen, die Andreas aus der Krise halfen. „In einem Seminar, eine Exkursion nach Venedig, lernte ich Frau Buschmann kennen, die mich auffing.“ Prof. Dr. Renate Buschmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Digitale Künste und Kulturvermittlung. „Sie sagte, ‚Du schaffst das und ich habe ein Auge auf dich.‘ Das hat mir gutgetan. An welcher Uni ist das möglich?“  

Heute arbeitet Andreas neben seinem Studium am Lehrstuhl von Prof. Buschmann und in der Haustechnik, er ist sich sicher, dass er sein Studium erfolgreich abschließen wird. „An unserer Uni habe ich genug Zeit und kann ohne großen Druck nach meinem Tempo studieren. Ich bin kein High-Performer, der Studieren in die Wiege gelegt bekommen hat, ich gehe meinen Weg.“ Dabei hilft ihm ein Studienmodell, das flexibel ist und in dem nicht die Anzahl der absolvierten Semester im Fokus stehen. „Hier zählst du als Mensch, wirst gesehen und gehört. Mit deinen Stärken, aber eben auch mit deinen Schwächen. Dafür bin ich dankbar, mir ging es nie um Credit Points, ich will Verstehen und das alles macht diese Uni so besonders.“

Andreas möchte mit seiner Geschichte inspirieren und auch andere Menschen ermutigen, die vielleicht nicht so gradlinige Lebensläufe haben und aus Akademikerfamilien kommen. Er möchte auch Mut machen, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu laufen und sagt lachend: „Die Auseinandersetzung mit anderen Menschen zeigt dir neue Wege auf. Fahrt also mehr Bus. Ist eh besser für das Klima!“

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