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Blog Universität Witten-Herdecke | „Pflegefachpersonen kündigen nicht (nur) wegen der Bezahlung...“

„Pflegefachpersonen kündigen nicht (nur) wegen schlechter Bezahlung, sondern weil sie ihren Beruf nicht personenorientiert ausüben dürfen“

Interview mit Prof. Dr. Rebecca Palm

Die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen – das ist das Ziel der Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Praxisentwicklung. Was den Ansatz ausmacht, wann eine personenzentrierte Pflege in der Praxis gelingen kann und wie Studierende der UW/H darauf vorbereitet werden, erläutert Prof. Dr. Rebecca Palm im Interview.

Ihr Forschungsfeld beschäftigt sich mit der Praxisentwicklung (in) der Pflegewissenschaft. Was bedeutet das?

Ziel der Praxisentwicklung ist es, Personen mit ihren individuellen Bedürfnissen, Wertvorstellungen und Haltungen in den Mittelpunkt der Versorgung zu stellen. Dabei geht es nicht nur um die Personen, die Pflege bekommen, sondern auch um die, die Pflege leisten.

Beispielsweise spielt die Arbeitskultur eine sehr große Rolle: Wie arbeiten wir miteinander, wie gehen wir miteinander und den Patient:innen um, was ist unsere Vorstellung von guter Pflege? Das Konzept der Praxisentwicklung setzt nicht normativ voraus, was gute Pflege ist, sondern zielt darauf ab, die an der Pflege beteiligten Menschen zu befähigen, eigene Wertvorstellungen und Visionen zu entwickeln und umzusetzen, um so Veränderung zu erreichen.

Nehmen wir zum Beispiel eine Patientin, die einen Schlaganfall erlitten hat: Was unterscheidet hier den personenzentrierten Ansatz von anderen?

Der Schlaganfall ist ein gutes Beispiel, weil er die Personen sehr plötzlich in die höchste Pflegeabhängigkeit versetzt. Mit einem frischen Schlaganfall sind die wenigsten Patient:innen in der Lage, selbstständig zu essen. Die meisten haben massive Schwierigkeiten mit dem Schlucken und damit, selbstständig zur Toilette zu gehen. Für die Betroffenen ist das wie ein Schockzustand – viele verweigern die Unterstützung, weil es ihnen unangenehm ist, plötzlich auf Hilfe angewiesen zu sein. Schlaganfall-Patient:innen sind nicht leicht zu versorgen, weil man unglaublich viel Zeit braucht und viel Verständnis für ihre Lage. Gleichzeitig gibt es einen sehr hohen Unterstützungsbedarf – sprich: man hat sehr viel zu tun mit scheinbar basalen pflegerischen Tätigkeiten.

In der Praxis setzt man diese Brille des Gegenübers selten auf: Hier als Pflegende ein Verständnis für das Gegenüber zu entwickeln klingt banal, geht aber im stressigen Stationsalltag häufig unter. Tätigkeiten wie Essen anreichen werden häufig an Auszubildende delegiert, damit Pflegefachpersonen Spritzen geben oder Visiten begleiten können. Dabei wird übersehen, dass es eine Herausforderung ist, das Essen so anzureichen, dass der Patient es auch annehmen und schlucken kann und hinterher nicht vor Scham auf dem Boden versinkt, weil die Hälfte verkleckert wurde. In der Folge nehmen viele Schlaganfall-Patient:innen nicht genug Nahrung zu sich oder verweigern die Nahrungsaufnahme und kommen nicht richtig zu Kräften. Eine solche Alltagssituation so wertschätzend zu gestalten, dass alle Beteiligten hinterher ein gutes Gefühl haben, ist ganz schwierig. Trotzdem spielt die Nahrungsaufnahme im Krankenhaus eine untergeordnete Rolle.

Wenn solche Situationen durch einen wertschätzenden, auf die Bedürfnisse aller Personen ausgerichteten Umgang miteinander gelöst werden können, ist das sicher sehr bereichernd für Pflegefachpersonen, weil sie den Beruf wieder so leben dürfen, wie sie es sich das ursprünglich vorgestellt haben. Trägt die Praxisentwicklung insofern auch dazu bei, die Bedingungen für Pflegepersonal und Pflegebedürftige zu verbessern – und letztlich dem Pflegenotstand entgegenzuwirken?

Im besten Fall ja. Je besser die Beziehungen zwischen Pflegepersonen und Patient:innen sind, desto besser gelingt die Pflege und desto zufriedener sind auch die Pflegenden. Die mangelnde Wertschätzung, die starke Arbeitsbelastung und die nicht adäquate Bezahlung spielen sicherlich auch eine große Rolle. Aber: Am unzufriedensten sind Pflegefachpersonen, weil sie ihren Beruf nicht so ausüben dürfen, wie sie wollen – also am Wohl der Patient:innen ausgerichtet. Das ist aus meiner Sicht einer der Hauptgründe, weshalb sie den Beruf verlassen. Dieses Gefühl, am Fließband zu pflegen und keine Beziehung zu den Patient:innen aufbauen zu können, ist für jemanden, der den Beruf aus einer intrinsischen Motivation gewählt hat, schwer zu ertragen.

Was kann man tun, damit eine solche (wahrscheinlich ja sehr zeitintensive) Pflege möglich wird? Und wie trägt die Professur dazu bei?
Mit dem Konzept der Praxisentwicklung geben wir Pflegenden Werkzeuge an die Hand, Veränderungen zu initiieren und verantwortlich zu begleiten. Auch wenn dieses Konzept sicher nicht den akuten Fachkräftemangel auflösen kann, so kann es bei konsequenter Umsetzung zu einer Erhöhung der Arbeitszufriedenheit führen. Und dies führt dann hoffentlich dazu, dass Pflegende ihren Beruf wieder gerne ausführen und nicht frühzeitig verlassen.

Die Professur trägt dazu bei, das Konzept der Praxisentwicklung in Deutschland bekannter zu machen und zu etablieren, es zu definieren und theoretisch weiter zu entwickeln und die Anwendung in der Praxis zu fördern, indem wir es im Masterprogramm Pflegewissenschaft lehren.

Wie werden die Studierenden an der UW/H auf die Anforderungen der Praxis vorbereitet und welche Rolle spielt dabei das Kooperationsnetzwerk, das Sie im Department für Pflegewissenschaft ins Leben gerufen haben?

Die Verzahnung von Theorie und Praxis ist ein zentraler Baustein des Studiums in Witten. Wir sind mit der Neuentwicklung des Master-Studiengangs Pflegewissenschaft und mit dem Start von Community Health Nursing verstärkt auf Krankenhäuser, stationäre Einrichtungen, ambulante Pflegedienste sowie Interessenvertretungen von Patient:innen zugegangen, um ein Kooperationsnetzwerk aufzubauen. Unsere Studierenden können bei unseren Praxispartner:innen ein Praktikum machen und sogar gemeinsam mit diesen ein Projekt umsetzen. Dazu machen sie während des dritten Semesters ein Orientierungspraktikum und entwickeln einen Projektplan für einen konkreten Bedarf des Praxispartners. Im vierten Semester führen sie dann das Projekt durch und verbinden dies idealerweise direkt mit ihrer Masterarbeit.

Eine unserer Studierenden hat beispielsweise auf der Intensivstation gearbeitet und sich dort mit der psychischen Belastung von Pflegefachpersonen auseinandergesetzt: Die Pflegenden sind moralisch durch ihre Tätigkeit belastet, weil ihr Handeln nicht den eigenen Moralvorstellungen entspricht – das bezeichnet man als „moral distress“. Diese Studentin hat für das Krankenhaus ein Konzept für ein Reflexionsangebot entwickelt, das den Pflegenden hilft, mit Erlebtem umzugehen, das eigene Handeln zu reflektieren und Belastungen abzubauen. So kann die Studentin die Inhalte ihres Studiums und das Konzept der Praxisentwicklung direkt anwenden – und das Krankenhaus kann sein Personal dabei unterstützen, die Belastungen abzubauen.

Mehr Infos zur Praxisentwicklung auf uni-wh.de

Rebecca Palm

hat seit Februar 2020 die Professur für Pflegewissenschaft mit Schwerpunkt Praxisentwicklung an der Fakultät für Pflegewissenschaften der UW/H inne. Sie forscht und lehrt zur evidenzbasierten und personzentrierten pflegerischen Praxis in allen klinischen Handlungsfeldern. Ziel der Professur ist es, Veränderungen in der Gesundheitsversorgung durch eine starke Vernetzung von Forschung und Praxis zu initiieren, zu begleiten und wissenschaftlich zu untermauern.

Gemeinsam mit ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Sibylle Reick hat die Expertin für Praxisentwicklung am 15. Juni 2023 auf dem Berliner Hauptstadtkongress zwei Kurzvorträge gehalten. Das internationale Symposium der deutschsprachigen Länder dient dazu, die großen Herausforderungen für das deutsche Gesundheitssystem ins Visier nehmen, Ideen und Konzepte abwägen und um die besten Lösungen ringen.

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