Planetare Intuition
Warum wir zur Erfassung unserer Umweltkrisen ein neues Verständnis für den Planeten brauchen
Zu den großen Rätseln unserer Zeit gehört es, dass die härter und härter, lauter und lauter werdenden Warnungen aus der Wissenschaft vor einem nahenden Zusammenbruch verschiedenster Vitalfunktionen des Planeten noch immer viel zu wenig fruchten. Die drohende Heißzeit übertrifft alles, was die Menschheit in ihrer Geschichte erlebt hat. Das Artensterben verläuft zehn- bis hundertmal schneller als im normalen Tempo der Evolution. Beides vollzieht sich in geologischen Zeiträumen betrachtet unglaublich schnell, aber in den Rhythmen menschlichen Alltags offenbar zu langsam, um adäquate Reaktionen auszulösen. Was es bedeutet, wenn wir nötige Veränderungen abwehren, und wie eine planetare Intuition zum Umdenken beitragen könnte – ein Gastbeitrag von Journalist Christian Schwägerl aus der Themenreihe „planetare Bildung“ im Vorfeld der SWITCH-Konferenz.
Wir sind weiter volle Fahrt voraus unterwegs in eine Welt mit chronischen Wetterextremen und einer verarmten Natur. Lange Zeit hieß es als Reaktion auf entsprechende Warnungen: „Das ist doch alles noch sehr weit weg, da müssen wir noch nichts tun.“ Jetzt, da sich die Zeitfenster schließen, heißt es: „Nicht so schnell, für diese ganzen Veränderungen brauchen wir viel mehr Zeit.“
Doch der Preis ausbleibenden Handelns wird immer spürbarer: Weltweit gewinnt eine Wasserkrise an Fahrt, die in Frankreich und Südspanien bereits ganze Landstriche trockenlegt. Der Amazonaswald, einer der wichtigen Klimaregulatoren, ist auf dem Weg, zur Savanne zu werden. Schneller noch als Regenwälder werden weltweit Feuchtgebiete zerstört, obwohl aus ihnen unser Trinkwasser stammt und sie die wichtigsten natürlichen Kohlenstoffspeicher sind. Deutschland wird von den Expert:innen attestiert, dass die meisten Naturschutzgebiete ihren Zweck nicht erfüllen und die meisten Gewässer in einem ökologisch schlechten Zustand sind.
In der deutschen Öffentlichkeit – und in vielen anderen Ländern – steht aber etwas Anderes im Vordergrund: die Abwehr der nötigen Veränderungen, die Verteidigung des Status quo, also all der Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Businessmodelle, die erst zur größten ökologischen Krise in der Geschichte der Menschheit geführt haben. Das Gewohnte soll möglichst unangetastet bleiben.
SWITCH-Konferenz an der Uni Witten/Herdecke
In planetaren Zusammenhängen denken und in planetarer Verantwortung handeln
Die SWITCH-Konferenz für planetare Bildung findet am 14. und 15. September an der Universität Witten/Herdecke statt und zielt darauf ab, ein neues Bewusstsein für die komplexen Wechselwirkungen zwischen Natur, Gesellschaft und Wirtschaft zu vermitteln und völlig neue Lösungen zu entwickeln: Wie können wir lernen, in planetaren Zusammenhängen zu denken und in planetarer Verantwortung zu handeln? Wie gestalten wir ein regeneratives und resilientes Wirtschaftssystem? Wie setzen wir konkrete Nachhaltigkeitsziele um? Was braucht es für neue Formen der Zusammenarbeit? Wie können und müssen wir uns selbst transformieren?
Mehr Infos unter https://planetare-bildung.de.
Wie konnte es zu dieser ökologischen Krise kommen?
Die einfachste Erklärung dafür funktioniert nicht mehr: mangelndes Wissen. Das traf noch in der Frühphase der Klimadebatte zu, von den 1970er-Jahren bis in die 1990er. Damals formulierten Forscher ihre Prognosen noch sehr vorsichtig, und die Warnungen gelangten nur selten in die breite Öffentlichkeit. Heute dagegen ist das nötige Wissen allgegenwärtig.
Ist vielleicht das Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, Schuld, wie die Demonstrant:innen von „Fridays for Future“ behaupten, wenn sie rufen „System change, not climate change”? Es gibt in der Tat grundsätzliche Probleme: ein intakter Regenwald, der den Wasserhaushalt des Planeten reguliert, hat einen Buchwert von null. Erst ein Regenwald, der für Gold und Holz niedergemacht ist, wird ökonomisch sichtbar. Doch auch das reicht nicht, die tiefsitzende Trägheit, das grassierende Desinteresse zu erklären.
Das Problem geht viel tiefer:
Es fehlt uns etwas, das man eigentlich für selbstverständlich halten sollte: ökologische und planetare Intuition, also die Fähigkeit, das Zusammenwirken der Lebewesen und physikalischen Kräften auf der Erde auch ohne Didaktik zu erfassen und in täglichen Entscheidungen zum Beispiel als Verbraucher anzuwenden.
Was bedeutet ökologische und planetare Intuition?
Zum Beispiel, dass Menschen beim Griff zum Wasserhahn wie von selbst vor Augen haben, wohin die Leitung in der Wand führt und woher das Lebenselixier kommt, das man gleich trinkt oder beim Duschen über sich rieseln lässt – nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Nähe eines Moores, einer Flussaue oder eines anderen Feuchtgebiets, das nur deshalb so viel Wasser speichern konnte, weil es lebendig ist.
Ökologische Intuition könnte heißen, auch in den kleinsten Lebewesen, einer Schwebfliege, die den Weg kreuzt oder einer Blume am Straßenrand, die schier unglaubliche Komplexität biochemischer Abläufe zu erkennen und die ungeheuren Leistungen, die sie ermöglicht: im Fall der Pflanze etwa, als zartes Ding den Asphalt zu durchbrechen, und im Fall der Schwebfliege, wie ein Hubschrauber in der Luft zum Stehen zu kommen, ganz ohne Ingenieur:innen, die das Teil für Teil zusammenbauen.
Ein intuitives Vorgehen könnte auch darin bestehen, beim Tanken nicht nur daran zu denken, für unterwegs noch einen Snack zu kaufen, sondern für einen Moment auch zu würdigen, was da durch den Plastikschlauch fließt: verflüssigte Überreste von Lebewesen, die über Millionen Jahre Sonnenlicht eingesammelt und in Form von Kohlenwasserstoffen gespeichert haben. Diese Gedanken wirken aber für die meisten Menschen zutiefst befremdlich. In unseren Köpfen verläuft eine Trennlinie zwischen dem unmittelbaren Zweck unserer Alltagshandlungen – das Auto zu betanken – und deren eigentlicher Bedeutung im Stoffwechsel des Erdsystems.
Warum missachten wir die Bedeutung unseres Handelns für den Planeten?
Man sollte meinen, dass auch wir, aus Millionen Jahren Evolution hervorgegangen, mit einem natürlichen Sensorium für das ausgestattet sind, was uns am Leben erhält: Risiken zum Beispiel für Überhitzung und für drohenden Wassermangel rechtzeitig zu erkennen, bevor es ums Überleben geht. Offenbar haben aber Jahrtausende einer kulturellen Entwicklung, die zumindest im Westen in fast allen Denkschulen die Biosphäre weitgehend ignoriert hat, ihre Spuren hinterlassen: Die Aufklärung wollte in der Natur vor allem ein Objekt sehen, der Industrialismus einen Rohstoff. Auch im Medienzeitalter ist die kritische Auseinandersetzung damit nicht über anrührende, von melodramatischer Musik unterlegte Natur-Dokus hinausgekommen.
Die Aufgabe ist ja auch riesig: Man kann die komplexen kausalen Zusammenhänge der globalisierten Welt – etwa zwischen einem Auto hier und dem brutalen Aluminiumabbau in Westafrika oder im Amazonas – nicht einfach erschnüffeln wie einen gefährlichen Geruch. Man muss lernen, solche Verbindungen über lange Distanzen und Zeiträume zu detektieren.
Wie kann ein Verständnis der Biodiversität dazu beitragen, eine planetare Intuition zu schaffen?
Es fällt ja schon schwer genug, die Formel „Mehr CO2 = höhere Temperaturen“ im Bewusstsein zu verankern. Wie sollen sich da die unendlichen Geflechte der humanen Ökologie erschließen? Vielleicht liegt genau hier das Problem. Die Umweltkommunikation, die Umweltbewegung, die Umweltpolitik – alle haben sich auf das Klima fokussiert und die Biosphäre weitgehend außen vorgelassen.
Doch eigentlich ist der Schwund der Biodiversität – also von genetischer Vielfalt, Artenvielfalt und der Vielfalt von Lebensräumen und Ökosystemen – die erste ökologische Großkrise und der Klimawandel die zweite. Mit dem Ausrotten von Tieren und der Zerstörung von Habitaten hat die Menschheit schon deutlich früher angefangen als mit dem Ausstoß gewaltiger Mengen Treibhausgase. Von der Biodiversität der Erde hängt schlichtweg alles im menschlichen Leben ab – Trinkwasser aus Feuchtgebieten, die Fruchtbarkeit landwirtschaftlicher Böden, neue Pflanzensorten, neue Wirkstoffe für die Medizin, der Schutz vor der Ausbreitung pandemischer Erreger. Doch weltweit rangiert die Biodiversität in Medien, Wirtschaft, Politik unter „ferner liefen“. Sie hatte Ende 2022 eine kurze Sternstunde, als 196 Staaten das „Montreal-Abkommen“ zum Schutz der Lebensvielfalt beschlossen. Aber von der Popularität des äquivalenten Klimavertrags von Paris ist das Dokument weit entfernt. Und das, obwohl Klimaschutz nicht ohne Naturschutz funktionieren kann. Moore, humusreiche Böden, Seegraswiesen, Regenwälder sind große und wichtige Kohlenstoffspeicher. Werden sie zerstört, schlägt der Effekt ins Gegenteil um – sie werden zu riesigen Kohlenstoffquellen.
Genau hier richtet das Fehlen ökologischer Intuition den größten Schaden an: Die Dimensionen der doppelten Umweltkrise wirklich zu erfassen, setzt nicht nur voraus, die simple Formel zu kennen.
Es geht um ein Verständnis für die großen, seit jeher globalisierten Stoffströme von Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor, für die Zyklen der Meeresströmungen tief im Ozean, für das hyperkomplexe Zusammenwirken von Millionen Organismen im Boden oder im Leben eines Waldes. Wirklich zu verstehen ist die Formel „Mehr CO2 = höhere Temperaturen“ nur, wenn man die ganze Tafel sieht, an der sie angeschrieben ist. Dort ist sie ein kleiner Teil eines viel größeren Gebildes.
Mehr dazu im WittenLab-Magazin 4/2023
Sonderausgabe zur SWITCH-Konferenz
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem WittenLab-Magazin 4/2023, das zur SWITCH-Konferenz im September erscheint und sich mit verschiedenen Aspekten planetarer Bildung befasst. Sie können das Magazin nach Erscheinen im Intranet der UW/H herunterladen.
Und wie kann es gelingen, die Biosphäre näherzubringen?
Die Umweltbildung, die es leisten sollte, den Menschen diese Biosphäre nahezubringen, hat offenbar noch nicht wirklich gewirkt. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie manchmal vor lauter großen Tafeln mit Fakten den Blick auf die dahinterliegende Natur versperrt oder allzu didaktisch vorgeht, statt auf persönliches Erleben zu setzen.
Es geht wohl weniger um Faktenwissen als um Erlebnisse. Eine fürchterlich unpolitische und naiv klingende Antwort könnte lauten: Ein Anfang könnte sein, wenn Milliarden Menschen zu kleinen Veränderungen motiviert werden können, zu ökologischen Lifehacks – innezuhalten, um einem Vogel zuzuhören, den Finger auf eine Baumrinde zu legen, einen Stein in der Hand zu wenden.
Absurd? Was in solchen Momenten passieren kann, hat ausgerechnet Alfred Döblin demonstriert. Der Schriftsteller, mit „Berlin Alexanderplatz“ weltberühmt geworden, war der Inbegriff eines Großstädters. Er begeisterte sich vor allem für „Häuser, Maschinen, Menschenmassen“, lange Zeit habe es ihn angewidert, ästhetisch ansprechende Landschaften aufzusuchen, schrieb er. 1921 verließ Döblin dennoch Berlin in Richtung Ostsee. Er fuhr in den Urlaub, nach Arendsee. Dort erlebte der damals 43-jährige Schriftsteller etwas Unerwartetes. Er habe „einige Steine gesehen, gewöhnliches Geröll, das mich rührte“, notierte er später. „Es bewegte sich etwas in mir, um mich.“ Er nahm Steine und Sand mit nach Hause.
Wie also kommt die nötige Bereitschaft ins Leben, unser Wirtschaften auf die Biosphäre auszurichten? Durch Katastrophen? Wenn erstmal ein Riesengletscher ins Meer rutscht, wenn erstmal Südeuropa kein Wasser mehr hat, dann wird es den Menschen schon klar, sagen oder denken manche. Spätestens die Corona-Pandemie hat aber gezeigt, wie irrational viele Menschen auf eine Bedrohung reagieren können und sogar die Hilfsmittel zu ihrer Beseitigung bekämpfen. Zudem haben vor allem junge Menschen ohnehin schon sehr viel Angst vor der Zukunft. Kann das die Grundlage einer intensiven Beziehung zur Erde sein, das Grundgefühl des Lebens?
Was es braucht, um ökologische Intuition zu stärken, sind konstruktive Ansätze. Es geht bei der Energiewende ganz zentral um hartes Ingenieurwesen, beim Naturschutz um Fachwissen der Landwirte. Aber für die tieferen Veränderungen geht es um unsere Kultur, ihre Werte, Praktiken und ja, auch Rituale.
Zwei Beispiele zur Illustration:
Wir erfahren täglich in den Nachrichten, wie Aktienkurse stehen und in welchen Mengen Waren zwischen Ländern gehandelt und um die Erde transportiert werden. Man stelle sich vor, jeden zweiten Tag würde statt „Börse vor acht“ „Erde vor acht“ gezeigt, mit den neuesten Schwankungen der Tier- und Pflanzenpopulationen, wie Kohlenstoff und Meerwasser um die Erde kreist, wie mit der Regeneration von Mooren deren monetärer Wert auf den Kohlenstoffmärkten steigt, wie Zugvögel Kontinente verbinden.
Mein liebstes Beispiel stammt vom anderen Ende der Welt: Im neuseeländischen Nelson kommen jedes Jahr Pfuhlschnepfen nach einem schier unglaublichen Flug an: 12.000 Kilometer nonstop von Alaska über den Pazifik, um auf der Südhalbkugel zu überwintern. Die Menschen dort feiern die Ankunft, indem sie bei der Ankunft der ersten Vögel die Kirchglocken läuten lassen. Ein kleiner Akt – aber ein großes Symbol auf dem Weg zu einer besseren ökologischen Intuition.
Die beiden Beispiele wirken natürlich lächerlich klein im Vergleich zu den gewaltigen nötigen Anstrengungen, dem Umbau der gesamten Energieinfrastruktur, der Erfindung umweltfreundlicher Materialien, der Entwicklung neuer Pflanzensorten und vielem mehr.
In einer durchökonomisierten Welt, in der Geld fast alles regiert, wird aber am Ende wohl doch die Ökonomie am ehesten in der Lage sein, Intuition zu stärken. Das betrifft die Regeln der privatwirtschaftlichen und staatlichen Bilanzierung. Was also, wenn Klima und Biosphäre in den Unternehmensbilanzen und staatlichen Budgets auftauchen würden, und das nicht nur in Form von Kosten für die Bürger:innen, etwa für neue Heizungen, sondern vor allem auf der Haben-Seite?
Der Wert, den Feuchtgebiete weitgehend kostenlos für die Wasserreinigung schaffen, lässt sich zum Beispiel gut darstellen: Wie viel würde es kosten, wenn das alles zusätzliche Kläranlagen übernehmen müssten? Die Haben-Seite ist um ein Vielfaches größer als das Soll der Kosten etwa von Naturschutz. Allein der monetäre Wert der Insektenbestäubung wird auf bis zu 500 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Trotz umfangreicher Vorarbeiten steht diese Integration der Biosphäre in unser Wirtschaften noch aus. An 364 Tagen im Jahr wirtschaften wir weitgehend wie bisher, am 22. April begehen wir den Earth Day. Breitet sich eine ökologische Intuition aus, wäre das ein Ritual, auf das wir verzichten könnten. Für Bürger:innen der Biosphäre ist jeden Tag Earth Day.
Christian Schwägerl
Christian Schwägerl ist Wissenschafts-, Politik- und Umweltjournalist. Er ist Mitgründer der Journalist:innen-Genossenschaft RiffReporter eG sowie geschäftsführender Gesellschafter der gemeinnützigen Riff freie Medien gGmbH. Neben zahlreichen Journalismuspreisen erhielt er mit dem RiffReporter-Team den Netzwende Award (2017), die Auszeichnung Wissenschaftsjournalist des Jahres (2017, mit Tanja Krämer), den Grimme Online Award (2018) und den UmweltMedienpreis (2021).
Weitere Informationen unter christianschwaegerl.com.
Kommentare
Keine Kommentare vorhanden.