Ziviler Ungehorsam – Sind die Klimaproteste antidemokratisch?
Die Klimabewegung protestiert auf unterschiedliche Art und Weise für mehr Gerechtigkeit und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Aktivist:innen kleben sich auf Straßen fest, blockieren Flugbahnen oder besetzten Dörfer, die vom Kohleabbau betroffen sind. Dabei nutzen sie auch das politische Instrument des zivilen Ungehorsams. Ein Begriff, der divers und meinungsgesteuert verwendet wird. Die einen finden zivilen Ungehorsam demokratiefördernd, die anderen demokratiefeindlich. Professor Jens Lanfer vom Department für Philosophie, Politik und Ökonomik der Universität Witten/Herdecke ordnet zivilen Ungehorsam ein und setzt ihn in Zusammenhang mit der Klimakrise sowie den aktuellen Geschehnissen rund um die Gemeinde Lützerath.
Der Begriff des zivilen Ungehorsams ist durch die Klimaproteste und aktuell durch die Geschehnisse in Lützerath wieder in den Fokus gerückt. Was zeichnet zivilen Ungehorsams aus?
Ziviler Ungehorsam muss als Protestaktion von Bürger:innen in der Öffentlichkeit innerhalb einer freiheitlich demokratischen Verfassung stattfinden. Personen, die Gebrauch von dieser Protestform machen, sollten keine Staatsfunktion haben oder Politiker:innen sein, sondern der politischen Zivilgesellschaft angehören. In Abgrenzung zu anderen Protestaktionen spielen zudem Gewaltfreiheit und Friedlichkeit eine zentrale Rolle. Ziviler Ungehorsam ist auf ein Unterlassen ausgerichtet: Man baut beispielsweise ein Baumhaus in einer Gemeinde wie Lützerath, verbleibt am Ort, auch wenn ein Verlassen polizeilich angeordnet wird und verhindert dadurch zunächst die Durchsetzung einer legalen und bis auf Weiteres den demokratischen Verfahren nach legitimen Regierungsentscheidung. Man geht also trotz Platzverweis nicht weg. Wenn man dann aber durch die Polizei abtransportiert wird, muss man es erdulden. Man darf sich also nicht mit Gewalt wehren und Straftaten wie Körperverletzung, Beleidigung oder üble Nachrede begehen. Es ist aber immer auch schwer zu sagen, jetzt ist es keine Aktion des zivilen Ungehorsams mehr, sondern schon eine Form des gewaltsamen Widerstands. Am Ende beurteilt der öffentliche Diskurs.
Wann und aus welchem Gründen ist ziviler Ungehorsam ein Mittel zum Zweck?
Man benötigt ein Anliegen, was nach dem Philosophen Charles Taylor sogenannte starke Werte vertritt. Bei Partikularinteressen sprechen wir zum Beispiel von schwachen Werten, weil sie keinen Bezug zur Öffentlichkeit bzw. zum Gemeinwohl haben. Wenn man aber das Klima schützen und auf die Einhaltung politischer Selbstverpflichtungen der EU pocht, dann würde ich sagen, handelt es sich hierbei um starke Werte, weil versucht wird, nicht nur die eignen Interessen, sondern das Wohl einer Gemeinschaft zu verfolgen. Allerdings bestehen natürlich auch andere Vorstellung vom Gemeinwohl im demokratischen Diskurs.
Wir haben gehört, Demokratie ist Voraussetzung für zivilen Ungehorsam. Können die Wertevorstellungen je nach Kultur eines Landes variieren? Wie verhält es sich denn in nicht-demokratischen Staaten?
Das ist eine sehr spannende Frage! Ich habe das zwar so behauptet und als These in den Raum gestellt, aber das ist wirklich kompliziert, inwieweit man in autoritären Systemen, wie beispielsweise China oder Russland, zivil ungehorsam sein kann. Hiermit verbunden ist nämlich ein weiteres Kriterium des zivilen Ungehorsams: Die Demonstration von Risiko- und Verantwortungsbereitschaft. Ich glaube, dass in der Abwägung zwischen dem Risiko, das ich eingehe, wenn ich zivilen Ungehorsam zeige, um Verantwortung für ein bestimmtes Thema zu übernehmen, und dem Risiko, Opfer einer staatlichen Repression zu werden, in autoritären Staaten eigentlich untragbar für den Einzelnen ist. Außer man ist Märtyrer. Dann begibt man sich bewusst in eine Situation, in der es egal ist, ob das eigene Leben gefährdet ist oder ich etwa für 15 Jahre weggesperrt werde. Ziviler Ungehorsam ist eine weichere Form, die eher zu Demokratien passt, weil die Abwägung zwischen Risiko und Verantwortung, die ich öffentlich zeige, in einem Verhältnis zueinander steht.
Ob Corona-Pandemie oder Energiekrise: Wir erleben in Teilen der Gesellschaft eine grundsätzliche Ablehnung gegenüber der Politik, dem Staat oder Massenmedien: Kann ein Anliegen mit starken Werten auch eine grundsätzliche Ablehnung gegen das System sein?
Nein. Ein weiteres wesentliches Kriterium für den zivilen Ungehorsam ist, dass man gegen einzelne Entscheidungen protestiert. Ein grundsätzliches Dagegensein lehnt die politischen und gesellschaftlichen Institutionen wie die Entscheidungsfindung über Institutionen der repräsentativen Demokratie, die Massenmedien oder Gerichte grundlegend ab und richtet sich dann gegen das System selbst. Als Einstellung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung könnten das dann schon Formen des Extremismus sein, die das Ziel haben, diese Grundordnung abzuschaffen.
Wieso ist ziviler Ungehorsam gegenüber dem Extremismus juristisch legitim?
Beim zivilen Ungehorsam möchte ich die Durchsetzung einer einzelnen Entscheidung verhindern, bewege mich aber innerhalb eines Rechtsgefüges, das ich in der Regel sogar in besonderem Maße akzeptiere. Denn ich muss ja den politischen Institutionen vertrauen, dass sie mich beispielsweise in der Form meines zivilen Ungehorsams nicht übermäßig bestrafen, indem ich zum Beispiel von der Polizei nicht sofort zusammengeknüppelt oder für lange Zeit weggesperrt werde. Daher: Ich brauche sogar ein besonderes Vertrauen ins politische System, dass u.a. ein Übermaßverbot als ein Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird. Und hier besteht nun eine Ambivalenz: Auf der einen Seite begehe ich eine Regel- und Rechtsverletzung und begebe mich ins Illegale. Auf der anderen Seite halte ich aber das System, das diese, für mich nicht legitime Entscheidung hervorgebracht hat, insgesamt für legitim, da es mich als demokratischer Bürger berechtigt, meinen zivilen Ungehorsam zu zeigen.
„Durch Aktionen des zivilen Ungehorsams werden politische Diskurse im besonderen Maße gepusht“
Teile der Gesellschaft und Politik sagen, Proteste wie sie die Klimabewegung zum Beispiel durch das Festkleben auf Straßen aktuell durchführt, sind antidemokratisch. Klimaaktivist:innen behaupten das Gegenteil und sagen, sie würden die Demokratie dadurch schützen.
Mein Zugang zu solchen komplexen politischen Fragen ist es, das Thema sachlich, sozial und zeitlich zu betrachten. Sachlich betrachtet muss man festhalten, dass bei den Klimaprotesten die Werte sehr stark sind. Sie werden öffentlich und durch die Medien wirksam vertreten, um zu rechtfertigen, was man dort tut. Damit legitimiert man die Form des zivilen Ungehorsams. Die soziale Ebene steckt hier auch schon drin: Über den Protest werden bestimmte Themen mehr und intensiver diskutiert und es soll provoziert werden, dass die Regierung, die gewisse Entscheidungen getroffen hat, diese überdenkt oder künftig anders entscheidet. Und an dieser Stelle muss man klar sagen, diese Prozesse fördern die Demokratie: Durch Aktionen des zivilen Ungehorsams werden politische Diskurse im besonderen Maße gepusht, denn hier wird über die politische Zivilgesellschaft die Demokratie mit Konflikten versorgt. Konflikte sind zwar negativ besetzt, aber auf gewaltfreie Konflikten ist die Demokratie ausgelegt – Demokratie ist ein Verfahren der Konfliktverarbeitung, um einen möglichst weitreichenden politischen Konsens für kollektiv bindendes Entscheiden zu erzielen. Je mehr Konflikte wir in das politische System einbringen, desto vitaler ist die politische Zivilgesellschaft und letztlich auch die Demokratie. Aus dieser Perspektive ist ziviler Ungehorsam also eigentlich immer demokratieförderlich.
Wann kann ziviler Ungehorsam ein Nachteil für die Demokratie sein?
Vor allem auf der Zeitdimension. Hierfür müsste man zuerst wieder schauen, was fordern die Protestierenden ein. Bewegungen wie Fridays for Future fordern ein politisches Umdenken und möchten, das umweltpolitische Ziele primär behandelt werden — also eine gesellschaftliche Transformation möglichst sofort. Demokratien sind im Verhältnis zu anderen Teilsystem wie Medien, Wirtschaft oder Wissenschaft allerdings sehr langsam. Demokratien beinhalten nationalstaatliche Prozesse und es sind diverse Abstimmungen, Verhandlungsrunden mit unterschiedlichen Interessen auf unterschiedlichen nationalen und internationalen Ebenen wie der EU notwendig. Das verlangsamt Prozesse sehr und damit braucht Demokratie Zeit. Wenn Bewegungen aber fordern, dass sofort gehandelt werden muss, dann widerspricht das eindeutig demokratischen Prinzipien. Aus den extremistischen Umweltbewegungen gibt es sogar Überlegungen, bei der Umsetzung von Transformationenprozessen in der Gesellschaft eher autoritäre staatliche Formen zu wählen , um langwierige demokratische Prozesse und die, aufgrund von Kompromissen im politischen Mehrebenensystem, stark ‚verwässerten‘ Entscheidungen zu übergehen.
Könnte man bei so schwerwiegenden einzelnen Themen wie dem Klimawandel die demokratischen Prozesse aushebeln und trotzdem weiter in einer Demokratie leben?
Einzelne Theoretiker haben argumentiert, dass bestimmte politische Themen und die hierauf bezogenen Entscheidungen dem politischen Diskurs entzogen werden könnten und nur Expert:innen, zum Beispiel aus der Wissenschaft, diskutieren und zumindest grundlegend entscheiden, was die Politik und der Staat zu tun haben. Insofern könnte man dem demokratischen Diskurs Themen entziehen, auch wenn dann nicht mehr alle Macht vom Volk ausgeht, was ja eigentlich für die Demokratie typisch ist. Zugleich wird durch diesen theoretischen Zugang eine Differenzierung zwischen starken und schwachen Werten vorgenommen: Schwache Themen, die nicht alle betreffen und einen besonderen Sachverstand benötigen, könnten ausgegliedert werden. Der Klimawandel betrifft nun aber alle und geht immer mit starken Werten einher. Die Gefahr ist jetzt, dass alle Folgefragen, zum Beispiel zur Klimagerechtigkeit, bei den Entscheidungen weniger Beachtung fänden. Das ist problematisch und für die demokratische Qualität sehr abträglich.
Welche Konzepte gibt es darüber hinaus?
Eine weitere Idee ist, nicht das politische System zu beschleunigen, indem demokratische Prozesse übergangen werden, sondern die Wachstumsorientierung, die vor allem zur Klimakrise geführt hat, zu bremsen, um dadurch nicht die politischen Entscheidungsprozesse, sondern die gesellschaftlichen Dynamiken zu verlangsamen. Hierbei sagt man, Wirtschaft muss gar nicht weiter wachsen, sondern sich vielmehr entschleunigen. Aber auch diese Stopp-Regeln durch Forderungen eines Post-Wachstums benötigen eine immense Transformation, weil politökonomische Verhältnisse auf Wachstum ausgerichtet sind. Damit ist es unwahrscheinlich, eine solche Transformation in kurzer Zeit hinzubekommen. Ideen sind zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen. Es könnte ein Hebel sein, zunehmende Beschleunigungen einer Wachstumsgesellschaft zu verhindern und politische Ideale eines Post-Wachstums zu verfolgen.
„Eine verängstigte, außer Kontrolle geratene Gesellschaft versucht in Teilen, aktionistisch bestimmte Rettungsanker zu greifen, die auch gegen bestehende Systeme gerichtet sind.“
Die Forderungen nach einer Aushebelung der Demokratie sind Theorien aus Teilen der Gesellschaft und keine Realität. Dennoch sagen einige Politiker:innen, die Klimaproteste seien feindlich für die Demokratie. Wird die Aussage „Die sind antidemokratisch“ vielleicht von gewissen politischen Spektren als Wahlkampfparole und zu Polarisierung genutzt?
So sehe ich das auch. Es geht ja auch darum, dass konservative Parteien im demokratischen Spektrum, von denen solche Aussagen vornehmlich kommen, Gegenpositionen bilden müssen, um sich von den Klimaaktivisten abzugrenzen. So lässt man sich zu solchen Aussagen hinreißen: Die Abwertung der politischen Gegenseite ist aber opportun und gehört zu demokratischen Prozessen natürlich dazu.
Wenn politischen Strömungen der zivile Ungehorsam bereits zu radikal oder sogar demokratiefeindlich ist, welche Alternativen kann man anbieten? Die Klimabewegung diskutiert schon sehr lange mit der Politik und geht seit Jahren als Massenbewegung auf die Straße. Vor allem junge Menschen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht und denken ernsthaft darüber nach, ob sie noch Kinder in diese Welt setzen können. Diese hier so als wertvoll dargestellt Zeit geht der Menschheit doch verloren.
Ich habe dafür keine Lösung, aber wir als Gesellschaft müssen uns fragen: Wie wollen wir den Klimawandel aufhalten? Und was ist uns die Transformation wert? Und wie können wir die Welt auf ein veränderndes Klima vorbereiten? Ich glaube, man muss sich fast schon damit anfreunden, dass man sich auch um die Folgen zu kümmern hat. Der Klimawandel ist ja bereits eingetreten, auch wenn gegen weitere Verschärfungen politische Konzepte entwickelt werden müssen.
Egal aus welcher Perspektive man auf die Klimakrise schaut, klar ist, ein großer Teil der Gesellschaft sieht darin eine große Bedrohung und Ängste machen sich breit. Wir reden hier über den zivilen Ungehorsam als demokratiefördernde Protest, der gewaltfrei sein sollte. Müssen wir uns aufgrund von Angst und Wut auch auf härteren Widerstand einstellen?
Ja, das wäre auch meine Prognose und ich möchte die hier erwähnte Angst-Thematik einfließen lassen, denn Klimawandel ist ein besonders virulentes Angstthema. Die Menschen sehen die konkreten negativen Veränderungen auf der Welt: Der Meeresspiegel steigt, Biosphären werden vernichtet, Tiergattungen sterben aus und sogar menschliche Lebensperspektiven werden zerstört – man hat also jeden Grund zur Furcht und Sorge. Zugleich verspüren einige Klimaschützer:innen einen Kontrollverlust, weil ihre Anliegen als nicht ausreichend politisch berücksichtigt erlebt werden. Die Sorge verstärkt sich und wird überbeansprucht. Letztlich trägt es dazu bei, dass gesellschaftliche Verängstigungen und Ängste um sich greifen. Eine verängstigte, außer Kontrolle geratene Gesellschaft versucht in Teilen, aktionistisch bestimmte Rettungsanker zu greifen, die auch gegen bestehende Systeme gerichtet sind. Dies deshalb, weil niemand Angst verspüren möchte und ihr entkommen will, indem etwas gemacht wird. Bevölkerungsteile geraten in Wut und Zorn und möglicherweise auch in Hass – hier reden wir dann über eine Eskalationsdynamik, die in den Extremismus führen kann. Und wie bereits erwähnt, richtet sich dieser Hass dann gegen politische und gesellschaftliche Institutionen.
Und an dieser Stelle stehen wir auch bei der Klimakrise?
Diese Tendenz zeigt sich immer dann, wenn die Sorge durch die Parteien- und Regierungspolitik nicht ernstgenommen wird. Man könnte jetzt sagen, dass ziviler Ungehorsam darauf ausgelegt ist, diese Sorge auch bei anderen in besonderem Maße einzufordern. Es geht um Selbstsorge: Was muss ich tun, um das Klima und die Umwelt zu schützen? Um Fürsorge: Wie bringe ich meine Mitmenschen dazu, mitzumachen? Und um Vorsorge: Wie handeln wir für zukünftige Generationen? Und wenn man auf all diese Fragen keine Antworten mehr hat und alles keinen Sinn hat, dann kann es eskalieren. Und ja, darin besteht eine wirkliche Gefahr.
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