„Wir müssen Biodiversität, Klimaschutz und Klimaanpassung zusammendenken und gemeinsam gestalten“
Eine Exkursion in die renaturierte Lippeaue zeigt, wie dies gelingen kann
Wie können wir die biologische Vielfalt in Zeiten des Artensterbens bestmöglich erhalten? Welche Naturschutzmaßnahmen sind besonders wirksam? Und wie genau tragen Renaturierungsprojekte zum Schutz der Biodiversität, zum Klimaschutz und zum Hochwasserschutz bei? Mit diesen Fragestellungen ausgerüstet haben sich Teilnehmende des Stufu-Seminars „Die Zukunft der Biodiversität“ auf eine Exkursion an die Lippeaue westlich von Lippstadt aufgemacht.
Vor Antritt der Exkursion haben die Studierenden gemeinsam mit Prof. Dr. Reinhard Loske in den Räumen der UW/H zunächst die globale Perspektive betrachtet: Das Konzept der planetaren Grenzen macht deutlich, dass die Menschheit mit Blick auf die Erderwärmung, den Biodiversitätsschwund, die Land- und Süßwasserübernutzung, die Abholzung von Wäldern sowie die Überdüngung auf einem fatalen Kurs ist, der dringend geändert werden muss. Besonders die Industrieländer mit ihren umweltschädlichen Produktions- und Konsumgewohnheiten sowie ihren historischen Emissionen und Ressourcenverbräuchen tragen die Verantwortung, die notwendige ökologisch-soziale Transformation voranzutreiben.
Auch die Gesetze und Abkommen zum Schutz der Natur waren Teil der Vorbereitung: von der UN-Konvention zur biologischen Vielfalt (1992) bis zur Weltnaturschutzkonferenz in Montreal (2022), von der deutschen Biodiversitätsstrategie (2007) bis zur aktuellen EU-Biodiversitätsstrategie für 2030. Das Fazit am Ende der Referate und Diskussionen war eindeutig: Viele gute Beschlüsse, aber zu wenig Umsetzung.
Rückgang der Artenvielfalt durch intensive industrielle Nutzung der Lippe
Ausgestattet mit diesem Wissenspaket, festem Schuhwerk und hinreichend Proviant ging es am nächsten Tag bei strahlendem Wetter ins Gelände. Geführt wurden die Teilnehmenden von Biologin Dr. Margret Bunzel-Drüke und Gewässerexperte Joachim Drüke von der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz im Kreis Soest (ABU), die auch Trägerverein der Biologischen Station Soest ist. Beide sind seit 35 Jahren aktiv am Projekt der Lippe-Renaturierung beteiligt.
Joachim Drüke führte zunächst in die Kulturgeschichte der Lippe ein. Seit dem Mittelalter wurden entlang des Flusses die natürlichen Auwälder gerodet. Der Fluss selbst wurde aufgestaut, um ihn für Wassermühlen nutzen zu können. Im 19. Jahrhundert machten die Preußen die Lippe dann für Schiffe zugänglich, indem sie diese teilweise begradigten und in ein starres Bett zwangen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein haben Industrialisierung, Wasserverschmutzung, Entwässerung der Aue, Wasserbau und intensive landwirtschaftliche Nutzung die letzten naturnahen Auenbereiche stark beeinträchtigt. Dies führte zu einem rapiden Rückgang der biologischen Vielfalt im Fluss und seinen Auen. Gleichzeitig vertiefte sich der begradigte Fluss durch erhöhte Fließgeschwindigkeiten und Kraft immer tiefer ins Gelände, was das Risiko von Hochwässern im Mittel- und Unterlauf erhöhte.
Wie die Renaturierung eine Erfolgsgeschichte wurde
Erst 1990 besann man sich allmählich darauf, Naturschutz, Wasserwirtschaft und Hochwasservorsorge als gemeinsame Aufgabe zu begreifen. Die NRW-Landesregierung legte ein Auenprogramm auf und stattete es mit großzügigen Mitteln zum Ankauf und Tausch von Flächen aus. Das war der Startschuss für die Lippe-Renaturierung. Dem Fluss wurde mehr Raum gegeben, sich eigene Wege zu suchen, zudem wurden Überflutungsflächen im Hochwasserfall geschaffen.
Drei begünstigende Faktoren trieben die Renaturierung stark voran: Das alte Amt für Agrarordnung übernahm die zeitintensiven Verhandlungen zum Flächenerwerb und -tausch mit den Landeigentümern, die staatliche Wasserwirtschaftsverwaltung verantwortete die Renaturierung des Flusses und die ABU (Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz Bad Sassendorf) übernahm als gut vernetzte NGO das ökologische Management der Lippeaue.
Das Projekt wurde so erfolgreich, dass es mittlerweile auch die anfangs skeptischen Teile der Kommunalpolitik befürworten, weil es überregionale Aufmerksamkeit mit sich bringt, Naherholungssuchende anzieht und sogar regionale Wertschöpfungsaktivitäten kreiert. „Uns wurde an der Lippe eindrücklich gezeigt, wie mit ein wenig Glück, viel Engagement von einigen Personen und einem langen Atem so etwas Wunderbares erschaffen werden kann, wie es hier der Fall ist“, fasst Niklas Schäffer, Medizinstudent und Exkursionsteilnehmer, die Kulturgeschichte zusammen.
Wie „Auerochsen“ und Konik-Pferde als Landschaftsgärtner eingesetzt werden
Inzwischen weist das Gebiet eine enorme Vielfalt an seltenen Tierarten auf. Ob Fischadler, Weißstorch, Eisvogel, Graugans, Biber oder Laubfrosch – hier werden Naturliebhaber:innen mit Sicherheit fündig. Margret Bunzel-Drüke erklärte den Teilnehmenden anschaulich, welche Arten hier zu finden sind und bezog vorbeifliegende Vögel wie den Kuckuck oder Kormoran spontan in die in die Erläuterungen mit ein. Psychologiestudentin Siwan Ristau war von der Lebendigkeit des Vortrags berührt: „Für mich war es inspirierend mitzubekommen, mit welcher Begeisterung uns ein Einblick ermöglicht wurde. Es gibt einem ein bisschen Hoffnung, zu sehen, was alles möglich sein kann und was vor Ort schon entstanden ist.“
Ein Aspekt fesselte die Seminarteilnehmenden ganz besonders: der Einsatz großer Säugetiere als „Landschaftsgärtner“. Seit rund 30 Jahren werden rückgezüchtete „Auerochsen“ und Konik-Pferde eingesetzt, um die Aue offenzuhalten, ihre Verbuschung zu verhindern und so die Natur zu schützen. Sie helfen, dass der Aufwuchs von Büschen und Bäumen in Grenzen gehalten wird, indem sie nachkommende Pflänzchen zertreten oder abbeißen. Dabei ist der als „Urrind“ bezeichnete „Auerochse“ seit dem 17. Jahrhundert ausgestorben. In vielen regionalen Rinderrassen Europas haben sich aber charakteristische Merkmale des Urrinds erhalten, die jetzt für Rückzüchtungsprogramme in Spanien, den Niederlanden und Deutschland genutzt werden können.
„Besonders beeindruckt hat mich, dass Europa einst nicht nur von Wäldern, sondern auch von weiten Graslandschaften mit großen Weidetieren geprägt war. Diese historische Vielfalt an großen wildlebenden Säugetieren in Europa war eine überraschende Entdeckung“, berichtet PPÖ-Student Johann Eickenbrock.
Erfolgsfaktoren der Lippe-Renaturierung
„Für mich stehen am Ende vor allem zwei Ergebnisse: Es ist deutlich geworden, dass Biodiversität, Klimaschutz und Klimaanpassung zusammengehören. Renaturierte Feuchtgebiete wie die Lippeaue fördern die Artenvielfalt, speichern große Mengen an Kohlenstoff und sind ein relevanter Beitrag zur Hochwasservorsorge“, fasst Prof. Dr. Reinhard Loske die Exkursion zusammen. „Die Exkursion hat auch gezeigt, dass Durchhaltevermögen, Offenheit und die Kooperation zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen notwendig sind, um solche Erfolge zu erzielen. Daraus lässt sich lernen.“
Am dritten und letzten Tag des Seminars, nun wieder in der Uni, wurden die Erkenntnisse der Exkursion ins Verhältnis zu verschiedenen theoretischen Naturschutzkonzepten im In- und Ausland gesetzt: Welches Potenzial bietet das „Rewilding“ für den Arten- und Klimaschutz? Sind Schutzgebiete der Königsweg für den Naturschutz? In welchem Verhältnis sollten nachhaltige Landnutzung und lebensdienlicher Naturschutz stehen? Ist die ökonomische Inwertsetzung der Natur der richtige Weg zum Erhalt der Biodiversität oder doch eher ein Irrweg, der letztlich zur Ausbeutung der Natur führt? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Diskussionen.
Die drei Tage in ihrer Mischung aus ökologischen, ökonomischen, historischen und rechtlichen Aspekten in Theorie und Praxis gingen schnell vorbei, werden aber sicherlich lange nachhallen.
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