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Blog Universität Witten-Herdecke | „Gerechtigkeit kommt in der Nachhaltigkeitsforschung oft zu kurz“

„Gerechtigkeit kommt in der Nachhaltigkeitsforschung oft zu kurz“

Interview mit Prof. Dr. Magdalene Silberberger und Dr. Sonja Knobbe

Wie gelingt der ökologische und sozialgerechte Wandel unserer Gesellschaft ins Zeiten der Klimakrise? Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich das fakultätsübergreifende Forschungszentrum [tra:ce] der UW/H. Im Interview erläutern Prof. Dr. Magdalene Silberberger und Dr. Sonja Knobbe die Vision und die Ziele des Centers.

Die sich kontinuierlich zuspitzende Klimakatastrophe mit weltweit dramatischen Auswirkungen stellt die Menschheit vor eine Jahrhundertaufgabe: die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Um diese wissenschaftlich zu begleiten und durch konkrete Handlungsempfehlungen voranzutreiben, hat die UW/H im Oktober 2022 das International Center for Sustainable and Just Transformation [tra:ce] gegründet.

Das fakultätsübergreifende Forschungszentrum beleuchtet nachhaltigkeitsbezogene Fragestellungen aus einer problemorientierten, transdisziplinären und ganzheitlich orientierten Perspektive. Weit über Witten hinaus will das Center in Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hineinwirken und die Transformation mitgestalten. Insgesamt soll die hier gebündelte Forschung dazu beitragen, nachhaltig orientierte Entscheidungen in Zeiten multipler Krisen zu ermöglichen und zu bestärken.

Wie das konkret gelingen soll, was das [tra:ce] von anderen Forschungszentren unterscheidet und warum soziale Gerechtigkeit dabei eine zentrale Rolle spielt, erläutern Prof. Dr. Magdalene Silberberger und Dr. Sonja Knobbe im Interview. Silberberger verantwortet als Akademische Leiterin des [tra:ce] die inhaltliche Ausgestaltung sowie Kooperationen in Lehre und Forschung, während Knobbe die Geschäftsführung und die strategische Ausrichtung koordiniert. Im Gespräch erklären die Wissenschaftlerinnen auch, wie Forschende dazu beitragen können, die Bevölkerung für sozialen Wandel zu gewinnen und wo aus ihrer Sicht die größten Hebel für eine sozial-ökologische Transformation liegen.

Warum habt ihr das [tra:ce] gegründet, was erhofft ihr euch von dem fakultätsübergreifenden Forschungszentrum?

Magdalene Silberberger: An der Gründung des [tra:ce] waren zahlreiche Personen, Fachbereiche und Abteilungen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven beteiligt – allen voran mein Kollege Joscha Wullweber, der die Heisenberg-Professur für Politics, Transformation and Sustainability innehat und inzwischen auch als Direktor das [tra:ce] mitverantwortet. In gemeinsamen Gesprächen mit zahlreichen Universitätsangehörigen haben wir festgestellt, dass Nachhaltigkeit zwar vielen Menschen an der UW/H sehr am Herzen liegt und sie sich intensiv in der Forschung und in der Lehre damit befassen, aber sowohl die Fakultäten untereinander als auch die einzelnen Personen nicht viel miteinander zu tun haben. Es gab also viele Überschneidungen und ungenutzte Synergien. Wir wollten deshalb einen Raum schaffen, wo diese Personen Netzwerke knüpfen, Kompetenzen bündeln, gemeinsame Forschungsprojekte vorantreiben und neue Drittelmittel akquirieren können.

Was unterscheidet das [tra:ce] von anderen Transformations-Forschungszentren?

Sonja Knobbe: Es gibt in NRW und deutschlandweit viele Nachhaltigkeitsforschungszentren, und es werden von Jahr zu Jahr mehr. Die Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit und menschlicher Gesundheit stehen dort aber nicht unbedingt im Fokus – insofern ist das wichtigste Alleinstellungsmerkmal der Einbezug der Gesundheitsfakultät, die von Mitgliedern wie Petra Thürmann als Vizepräsidentin für Forschung und Jan Ehlers als Vizepräsident für Lernen und Lehre auch personell stark vertreten ist. Warum die gesundheitlichen Aspekte im Zusammenhang mit der sozial-ökologischen Krise wichtig sind, wird schon bei ganz einfachen Dingen augenscheinlich: zum Beispiel bei der Erkenntnis, dass Fleisch essen sowohl dem Planeten als auch der Gesundheit schadet, oder der Tatsache, dass Fahrradfahren mich fit hält und auch die Umwelt schont. Wir Menschen sind Teil dieses Planeten und dieses Ökosystems: Was für das Ökosystem des Planeten gut ist, ist entsprechend auch gut für unser Ökosystem.

Magdalene Silberberger: Auch die ganzheitliche Betrachtung ist ein wichtiges Element: Wir wollen die inhaltliche Arbeit nicht nur auf unsere beiden Fakultäten begrenzen, sondern die gesamte Universität einbinden – sprich auch das WittenLab. Nachhaltigkeit in der Kunst ist deshalb genauso ein Thema des [tra:ce] wie die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise.

  

Wie wichtig sind dabei Fragen sozialer Gerechtigkeit?

Magdalene Silberberger: Uns war es von Anfang an wichtig, das Thema Nachhaltigkeit weit zu fassen: Ökologische Nachhaltigkeit steht im Zentrum, funktioniert aber nicht ohne die Gerechtigkeitsdimension. Obwohl man meinen sollte, dass das Thema Gerechtigkeit in Nachhaltigkeitsfragen immer mitgedacht wird, wird es meist nicht bzw. nur nachrangig behandelt. Es gibt viele Institute, die beispielsweise in Bereichen wie der Umweltökonomik oder den Naturwissenschaften sehr stark sind, aber soziale Fragen durch ihren engen Fokus außer Acht lassen. Mit der Namensgebung „International Center for Sustainable and Just Transformation“ wollten wir diese ganzheitliche Betrachtung verdeutlichen. Streng genommen kommt die soziale Dimension hier doppelt vor, da „Sustainability“ per Definition auch den Gerechtigkeitsaspekt beinhaltet. Aber, wie gesagt, im Nachhaltigkeitsbegriff geht diese Dimension oft verloren.

Sonja Knobbe: Das war tatsächlich auch einer der Gründe für meine Bewerbung. Ich komme aus der Bürgerbeteiligung – und dort ist besonders augenscheinlich, dass soziale Aspekte oft vergessen werden. Das schadet dem öffentlichen Diskurs. Wenn die nachvollziehbaren Interessen bestimmter Gruppen vergessen werden, können Boulevardmedien leichter polarisieren.

Wie können Forschende dazu beitragen, die Bevölkerung besser zu erreichen?

Sonja Knobbe: In der Nachhaltigkeitsforschung gibt es dazu verschiedene Perspektiven: Die transformative und transdisziplinäre Forschung empfiehlt, alle Statusgruppen einzubeziehen und gemeinsam ganzheitliche Forschungsfragen zu entwickeln. Es ist wichtig, Probleme nicht nur aus der wissenschaftlichen Bubble heraus zu bearbeiten, sondern im gesamten Prozess verschiedene Gruppen einzubeziehen und die Ergebnisse auch kommunikativ gut zu begleiten.

So werden es am [tra:ce] verschiedene Projekte bearbeitet, die unterschiedliche Stakeholder mit einbeziehen – etwa das Projekt UrbanZero, dass eine enkelfähige Transformation des Duisburger Stadtteils Ruhrort unter Einbezug von Wirtschaft, Verwaltung und Bürger:innen realisieren will. Auch das Projekt BioVal – Biodiversity Valuing & Valuation arbeitet direkt mit Vertreter:innen der Wirtschaft zusammen. Im Bereich Planetary Health werden darüber hinaus Bildungsveranstaltungen hinsichtlich ihrer Wirkung auf Studierende weit über die UW/H hinaus evaluiert. Nicht zuletzt bieten wir als Institut öffentliche Veranstaltungen an, um unsere Forschung auch einem nicht wissenschaftlichen Publikum zu kommunizieren. Auch über solche Veranstaltungen hinaus wollen wir eine breite Masse erreichen, weshalb wir eng mit der Kommunikationsabteilung an der UW/H zusammenarbeiten.

Neue Anreize für die globale Klimafinanzierung?

Forschungskolloquium am 17. Januar 2024 ab 18:30 Uhr 

Im [tra:ce]-Forschungskolloquium wird Prof. Dr. Magdalene Silberberger die Arbeit der Arbeitsgruppe Green Impact Funds (GIFT) vorstellen. Die Arbeitsgruppe hat einen innovativen Mechanismus entwickelt, der darauf abzielt, globale Klimafinanzierungsmittel durch Subventionsauktionen effizient zu verteilen und dabei Projekte mit dem höchsten messbaren Klimanutzen ins Visier zu nehmen. Ein konkretes, zeitnahes Anwendungsbeispiel verfolgt das Team mit einem ehrgeizigen Pilotprojekt zur Förderung der Verwendung von Biokohle.

Der Vortrag wird sich auch mit folgenden Fragen befassen: Wer trägt die Verantwortung für die Reduzierung der Treibhausgase? Welche Strategien werden derzeit weltweit verfolgt, und warum liegt der Schwerpunkt auf dem Globalen Norden? Können wir den Klimawandel effizienter bekämpfen - bei begrenzten Ressourcen? Wie können wir Anreize für Regierungen schaffen, ihre Ausgaben für den globalen Wandel zu erhöhen?

Hier finden Sie weitere Informationen zur Veranstaltung.

Was sind die nächsten Meilensteine für das [tra:ce]?

Sonja Knobbe: Ich sehe es als meine primären Aufgaben, die Identitätsbildung, die Sichtbarkeit und die inneruniversitäre Vernetzung voranzutreiben, um das [tra:ce] als Anlaufstelle für Nachhaltigkeitsforschung zu institutionalisieren. Wir wollen beispielsweise Kolloquien anbieten, u. a. mit externen Gästen wie Uwe Schneidewind, dem Oberbürgermeister von Wuppertal. Gleichzeitig wollen wir neue Austauschformate etablieren – zum Beispiel Workshops für Promovierende oder Veranstaltungen für Studierende. Zudem wollen wir die externe Sichtbarkeit stärken – u. a. durch die Vertretung des [tra:ce] auf Konferenzen. Gleichzeitig wollen wir uns stärker vernetzen, neue Projekte initiieren und weitere Drittmittel akquirieren. Längerfristig geht es auch darum, neue Themenfelder in der Forschung zu identifizieren und zu besetzen.

Magdalene Silberberger: Im Bereich der Vernetzung haben wir auch schon erste Erfolge zu verzeichnen. Bei mir persönlich haben sich beispielsweise mit dem Institut für Wasser-Engineering und -Management (IWEM) und mit dem Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung (ZNU) zwei Kooperationen ergeben, die ohne das [tra:ce] wahrscheinlich nie so bzw. nicht so schnell entstanden wären.

Warum ist die UW/H der ideale Ort für das [tra:ce]?

Sonja Knobbe: Witten hat eine unglaublich herzliche Arbeitskultur; die Menschen hier gehen sehr offen aufeinander zu und versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden. Ein Beispiel: Ich war letztens bei einer der Diskussion im Koordinationsteam Nachhaltigkeit zu Gast, bei dem es darum ging, dass die UW/H innerhalb kürzester Zeit auf dem Hauptcampus klimaneutral werden will. Obwohl das sehr ambitioniert ist, ging es nicht etwa um die Frage, warum das nicht gehen könnte, sondern es wurde ausschließlich darüber gesprochen, wie wir das schaffen. Das habe ich in anderen Settings nie so erlebt. Insofern gibt es hier, was das Thema Nachhaltigkeit angeht, eine große Ambition und eine große Selbstverständlichkeit. Das ist ein tolles Umfeld, um das Thema auch in der Forschung voranzutreiben: Man muss den Menschen nicht mehr erklären, warum Nachhaltigkeit wichtig ist, sondern kann auf einer anderen Ebene ansetzen.

Magdalene Silberberger: In gewisser Weise ist das auch der Zwang der kleinen Uni: Man muss miteinander reden und hat zwangsläufig eine Verbindung. Bei allen Nachteilen, die eine kleine Uni in der Forschung mit sich bringt, ist dies eine große Stärke der UW/H.

Sonja Knobbe: Genau. Hier kommen auf kleinem Raum sehr unterschiedliche Menschen und Disziplinen zusammen, die an einer großen Universität nie miteinander zu tun hätten. Nicht zwangsläufig, weil sie sich nicht mögen, sondern weil sie räumlich wie inhaltlich keine Überschneidungen haben. Üblicherweise gibt es zwischen der Ökonomik, der Kunst und Kultur, der Medizin und der Geisteswissenschaft große Gräben. Diese mag es hier in kleinerer Form auch geben, aber wir versuchen, sie immer wieder zu überwinden. Die interdisziplinäre Betrachtungsweise, die dadurch entstehen kann, ist ein großer Gewinn.

  

Wo seht ihr die größten Hebel für eine sozial und ökologisch gerechte Transformation?

Sonja Knobbe: Insgesamt wünsche ich mir, dass wir als Gesellschaft viel mehr über Möglichkeiten sprechen, dass wir gemeinsam vorangehen und weniger darüber diskutieren, warum etwas nicht geht, wieso die Letzte Generation nervt und dass die Heizungsreform so nicht funktioniert. Eine positive Haltung und die Einbindung aller Statusgruppen sind aus meiner Sicht entscheidend.

Magdalene Silberberger: Die Transformation ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Leider gehen die Diskussionen derzeit in die falsche Richtung: Es wird ein Gegeneinander geschürt, statt sich auf Gemeinsamkeiten zu konzentrieren. Wir können nicht von oben herab Lösungen vorschreiben und auf die Forschung verweisen – das wird nicht funktionieren. Die zentrale Frage ist: Wie können wir ein Empfinden der Notwendigkeit verstärken und gleichzeitig dafür sorgen, dass Menschen beteiligt werden und nicht das Gefühl haben, ausschließlich benachteiligt zu werden? Wir werden uns alle einschränken müssen, aber die Belastungen müssen gerecht verteilt werden. Was bringen uns tausend neue Mechanismen und Modelle, wenn diese am Ende daran scheitern, dass nicht mitgezogen wird?

Kennen Sie schon die neue „Wittenswert“?

Themenfeld: Transformation & Nachhaltigkeit

  

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der aktuellen Ausgabe der „Wittenswert“. Das neue Magazin für Förderer und Partner:innen zeigt auf, wie die UW/H die sozial-ökologische Transformation vorantreibt.

Lesen Sie u.a., wie die UW/H mit der SWITCH-Konferenz den Startschuss für eine wegweisende Bewegung für planetare Bildung gegeben hat und wie Forscher:innen mit dem fakultätsübergreifenden Forschungszentrum [tra:ce] den sozial gerechten, ökologischen Wandel vorantreiben. 

Sie können das komplette Magazin hier als Pdf einsehen.

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