Gastbeitrag: „Die Benachteiligung der Pflegefachkräfte ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht fatal“
Prof. Dr. Margareta Halek erklärt, warum wir den Wert von Pflege neu definieren müssen
In der Debatte um angemessene Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege wird oft übersehen, welch entscheidenden Beitrag Pflegefachkräfte für die Gesellschaft leisten. Prof. Dr. Margareta Halek, Pflegewissenschaftlerin und Dekanin der Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke, erklärt im Interview, warum die herkömmliche Bewertung von Pflegenden wirtschaftlich kurzsichtig ist.
„Our Nurses. Our Future.“ Mit diesem Slogan erinnert der Internationale Pflegeverband ICN an die Bedeutung der Pflegeberufe für die Zukunft der Gesellschaften. In diesem Jahr ergänzt der ICN das Motto: The economic power of care. Was können wir darunter verstehen?
Prof. Dr. Margareta Halek: Der ICN will einmal mehr deutlich machen, dass die Vernachlässigung oder Benachteiligung der Berufsgruppe der Pflegenden, die ja das Rückgrat der Gesundheitsversorgung darstellen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht fatal ist. Dabei geht es nicht nur darum, dass Pflegende oftmals unterbezahlt und nicht angemessen wertgeschätzt werden, auch wenn dies ein wichtiger Punkt ist.
So diskutieren wir beispielsweise aktuell darüber, ob 4000 Euro im Monat ausreichend oder angemessen sind. Damit akzeptieren wir, dass zwischen Gesundheitsberufen zum Beispiel im Krankenhaus ein enormer Gehaltsunterschied herrscht, wobei alle Gesundheitsberufe durch die Gesellschaft finanziert werden. Eine vermögende Pflegefachperson würde eher zu Irritationen führen.
Es geht vor allem darum, dass eine ineffiziente Nutzung pflegerischer Kompetenzen und Fähigkeiten für die Gesundheitsversorgung der gesamten Bevölkerung zu hohen Kosten im Gesundheitswesen führen, die vermeidbar wären. Die Vorteile des Einsatzes akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen sind hinreichend belegt. Aber hierzulande werden etwa die Erkenntnisse, die sich aus der pflegewissenschaftlichen Forschung ergeben, nicht sinnvoll für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens genutzt.
„Our Nurses. Our Future“
Zum International Tag der Pflegenden am 12. Mai hat der ICN neben der Kampagne auch einen Bericht veröffentlicht, der sich mit dem ökonomischen Beitrag der (pflegerischen) Versorgung befasst. Dieser kann hier heruntergeladen werden.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Nehmen wir zum Beispiel den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung. Es gab jahrelange Diskussionen in und außerhalb der Pflegewissenschaft, dass der alte Pflegebedürftigkeitsbegriff, also die Frage, welche Kriterien für die Einschätzung von Pflegebedürftigkeit zugrunde gelegt werden können, viel zu verrichtungsorientiert ist und einer wissenschaftlichen Basis entbehrte. Dann wurde in einem sehr umfangreichen Prozess von einem Team von Pflegewissenschaftlicher:innen ein Vorschlag für eine Neuformulierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs erarbeitet, der tatsächlich auch Eingang in das Pflegeversicherungsgesetz und in die Begutachtungspraxis gefunden hat.
Was sich aber bis heute nicht geändert hat, sind die Bedingungen der Leistungserbringung. Immer noch sind Pflegedienste gezwungen, ihre Pflegeleistungen in Form von sogenannten Leistungskomplexen mit der Pflegekasse abzurechen: Die Ganzwaschung, die Teilwaschung, usw. Dass nun die Pflegekassen obendrein nur im geringen Umfang die durch die Inflation und gestiegenen Energiekosten entstandenen Kostensteigerungen übernehmen, und dadurch viele Pflegedienste und auch stationäre Pflegeeinrichtungen von Insolvenz bedroht sind, ist wieder einmal ein Zeichen dafür, dass die Anliegen der Pflege – und natürlich auch der Pflegebedürftigen – in diesem Land kein Gehör finden. Oder ist ein Stabilisierungspaket nach dem Lufthansavorbild in der Pandemiezeit in Planung? Langfristig wird dies zu einem finanziellen Schaden führen, den die Gesellschaft zu tragen haben wird.
Was müsste sich ändern?
Der ICN spricht an dieser Stelle von einem notwendigen Perspektivwechsel: Wir sollten den wirtschaftlichen Wert betrachten, den Pflege für den Bestand und Fortbestand der Gesellschaft leistet. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen werden oftmals im Sozial- und/oder Gesundheitsbereich – und damit in der Pflege – Ausgaben gekürzt bzw. Budgets begrenzt. Neuestes Beispiel könnten die Gesundheitskioske und Primärversorgungszentren sein. Das muss aufhören.
Politik und Entscheidungsträger:innen im Gesundheitswesen, aber auch die Gesellschaft im Ganzen sind sich viel zu oft des substanziellen Beitrags der Pflege nicht bewusst, oder sie verdrängen die Fakten. Es geht darum anzuerkennen, dass Gesundheitsversorgung und Pflege ein Investment und nicht einfach nur Kosten sind.
Diesen Anspruch formulierte der ICN bereits letztes Jahr zum Internationalen Tag der Pflegenden, und er gilt genauso noch heute und in Zukunft.
Zur Person
Prof. Dr. Margareta Halek ist Pflegewissenschaftlerin und Dekanin der Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke.
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