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Blog Universität Witten-Herdecke | Ausbildung in eigener Hand

Ausbildung in eigener Hand:

Wie ein Pilotprojekt Studierende schon heute zu einem elementaren Teil der Gesundheitsversorgung macht

Was bedeutet es, schon während des Medizinstudiums echte Verantwortung zu übernehmen – nicht nur für die eigene Ausbildung, sondern auch für Patient:innen? Besonders eindrucksvoll zeigt das ein Pilotprojekt an der UW/H: das Longitudinal Integrated Clerkship (LIC). Dieses Ausbildungsmodell holt Studierenden aus der Rolle der passiv Lernenden und macht sie zu aktiven Mitwirkenden der Gesundheitsversorgung: Anders als im regulären Medizinstudium lernen LIC-Teilnehmende medizinische Fächer wie Chirurgie, Innere und Allgemeinmedizin nicht in einzelnen Blockpraktika und voneinander getrennt, sondern gleichzeitig und im Zusammenspiel – über einen längeren Zeitraum hinweg und orientiert an den Bedürfnissen ihrer Patient:innen.

Genau das haben Clara Becker und Camille Espenkott erlebt. Beide sind aktuell im siebten Semester ihres Medizinstudiums und gehören zur ersten Kohorte, die den Weg für dieses neuartige Ausbildungsformat mit Mut und Gestaltungswillen bereitet hat.

Beziehungsorientierte Medizin ist der Schlüssel

Das Herzstück des Longitudinal Integrated Clerkship (LIC)ist die kontinuierliche Begleitung von Patient:innen. Camille Espenkott erzählt von einem Mann, den sie zunächst in der hausärztlichen Praxis und später im Krankenhaus in der Chirurgie während und nach einer Operation betreute. „Ein bekanntes Gesicht, das mit in den OP-Saal kommt, gibt vielen Menschen in dieser Ausnahmesituation Sicherheit“, erzählt sie. Die Studierenden werden zu vertrauten Ansprechpersonen der Patient:innen, die Sorgen und Ängste auffangen und medizinische Informationen übersetzen. „Wer selbst einmal Patient:in oder Angehörige:r war, weiß, wie wichtig es ist, sich gesehen und gehört zu werden“, sagt auch Clara Becker. „Durch persönliche Gespräche haben wir gelernt, neben den Symptomen auch die Lebensumstände der Menschen zu berücksichtigen und in die Behandlung miteinzubeziehen.“

Für viele Ärzt:innen war das neue Ausbildungsmodell zunächst ungewohnt: Um nicht nur zu hospitieren, sondern eine aktive Rolle in der Versorgungspraxis einnehmen zu können, brauchten die Studierenden zunächst eine gute Einarbeitung. So starteten sie mit den sogenannten Skills-Wochen, um die wichtigsten klinischen Behandlungstechniken wie etwa Ultraschall oder Blutentnahme zu trainieren. In einem System, das ohnehin unter enormem Druck steht, brauchte es somit die Bereitschaft der betreuenden Mediziner:innen, Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren – und die Überzeugungsarbeit der Studierenden, die für ihre Bildung einstanden. „LIC ist ein Konzept, das man nicht nur theoretisch verstehen, sondern praktisch spüren muss“, sagt Clara. „Viele hatten zunächst keine Vorstellung davon, wie LIC den Arbeitsalltag positiv verändern würde.“

Doch mit der Zeit zeigte sich die Wirkung: mehr Selbstständigkeit der Studierenden, eine bessere Orientierung für Patient:innen und eine spürbare Verstärkung und Entlastung im Team. So rief die LIC-Kohorte der UW/H allen Beteiligten ins Bewusstsein, was gute Versorgung ausmacht. Ein Oberarzt formulierte es bei der Abschlussfeier des Pilotprojekts eindrücklich: „Ihr habt die Patient:innen wieder mehr in den Mittelpunkt gestellt.“

„Die Energie und der Gestaltungswille waren unfassbar mitreißend.“

Das Pilotprojekt nahm im Frühjahr 2024 seinen Anfang, als das erste LIC-Symposium in Witten stattfand. „Ich hatte das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein“, beschreibt Camille das Gefühl während der Veranstaltung. Gemeinsam mit einer Delegation der Harvard Medical School aus Boston diskutierten sie, ihre Kommiliton:innen und Lehrende der UW/H über die medizinische Ausbildung der Zukunft: „Die Energie und der Gestaltungswille waren unfassbar mitreißend. Das hat vieles ins Rollen gebracht!“ Das LIC-Modell war bisher fast ausschließlich an Universitäten im englischsprachigen Raum – wie Kanada, Australien, Südafrika und den USA – bekannt. Die Universität Witten/Herdecke setzt das modellhafte Ausbildungsformat nun als erste Hochschule in Deutschland um.

An der UW/H hat LIC seinen ganz eigenen Charakter: Studierende als Co-Creators – also Mitgestaltende. So waren Camille, Clara und ihre Kohorte nicht nur die ersten LIC-Studierenden der UW/H, sondern haben das Projekt zusammen mit ihren Lehrenden erst aus der Taufe gehoben und ein Konzept entwickelt. „Wir haben uns als Studierende von Anfang an gefragt: Was brauchen wir wirklich zum Lernen – und wie soll unser klinischer Alltag aussehen?“, sagt Camille.

Mitgestalten statt Abarbeiten

Die Anfänge waren intensiv und haben die Studierenden zusammengeschweißt. Während Clara und Camille sich auf das erste Staatsexamen vorbereiteten, planten sie zusammen mit ihren LIC-Kommiliton:innen parallel ihren Stundenplan. Wöchentliche Treffen, Austausch mit Lehrenden, Abstimmungen im Curriculumskomitee – und die Erkenntnis, dass man ein neues Ausbildungsmodell manchmal baut, „während das Flugzeug bereits in der Luft ist“. Zwischen fünf Tagen Klinik in der Woche, Unterrichtsblöcken und Reflexionseinheiten tüftelte die Gruppe immer wieder an Verbesserungen. „Es war viel – aber ein positives Viel, weil die Fortschritte direkt spürbar waren“, erinnert sich Camille. Clara ergänzt: „Das Magische, was uns durch die Zeit getragen hat, war das dankbare Bewusstsein, dass wir an unserer Uni diesen Gestaltungsraum bekommen und uns für unsere Wünsche stark machen konnten.“ Damit haben sie den Weg für zukünftige LIC-Kohorten geebnet.

Gerade die Eigenverantwortung prägt das LIC entscheidend: Was brauche ich heute, um meine Patient:innen gut zu betreuen? Was verstehe ich noch nicht – und wo muss ich tiefer einsteigen? Dieses Selbstverständnis verändert nicht nur die Rolle im Studium.

Ein Projekt, das weiterwächst und Maßstäbe setzt

Clara und Camille möchten, dass LIC an der UW/H fest verankert wird. Deshalb engagieren sie sich in einer gleichnamigen studentischen Initiative, organisieren interaktive Symposien, stellen das Projekt zu Semesterbeginn vor und planen einen eigenen Instagram-Kanal, um Einblicke zu geben. Ein besonderes Highlight für Camille und Clara in diesem Sommer war die globale LIC-Konferenz in Wales. Dort präsentierten die UW/H-Studentinnen ihre Perspektive vor einem internationalen akademischen Publikum mit der Botschaft: Studierende können und sollen Ausbildung mitgestalten.

Die Erfahrungen haben Clara und Camille geprägt und ihren Anspruch an ihr zukünftiges Berufsbild geschärft. Sie wissen, wie herausfordernd der Klinikalltag sein kann und wie leicht man gute Vorsätze im System verliert. Camille: „Viele ehemaligen Kommiliton:innen sind nach ihrem Abschluss mit dem gleichen Idealismus, wie wir ihn spüren, ins Berufsleben gestartet und erleben jetzt einen enormen Arbeitsdruck.“ Die Studentin hat Respekt vor dem Einstieg in die Arbeitswelt, fühlt sich aber gleichzeitig durch ihre Zeit im LIC gestärkt. „Ich nehme mir fest vor, mir selbst treu zu bleiben, meine Empathie zu bewahren und den Menschen stets ins Zentrum meiner Arbeit zu stellen.“

Für Clara ist LIC mehr als ein Pilotprojekt. „Es ist ein Impuls für eine besseres Gesundheitsversorgung – eine, die zuhört, begleitet und Verantwortung teilt. Ich hoffe, dass ich für die die Veränderungen, die ich mir ersehne, auch als Ärztin einstehen kann.“

Was ist das LIC?
Das Longitudinal Integrated Clerkship (LIC) der Universität Witten/Herdecke richtet  sich an Medizinstudierende im fünften Fachsemester, die ihre klinische Ausbildung besonders praxisnah und beziehungsorientiert gestalten möchten. Dabei arbeiten sie interdisziplinär mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke sowie kooperierenden hausärztlichen Praxen zusammen. Getragen wird das Projekt vom Integrierten Begleitstudium Anthroposophische Medizin (IBAM) und der studentischen Initiative „LIC UW/H – Klinik neu denken“. Eine wissenschaftliche Evaluation untersucht, wie sich das Modell auf Lernprozesse, praktische Kompetenzen und die Qualität der Patientenversorgung auswirkt. Ein erster Artikel zum LIC UW/H wurde in der Rubrik „Student’s Corner“ der Fachzeitschrift The Mind veröffentlicht.

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