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Blog Universität Witten-Herdecke | Ukrainekrieg – globale Folgen und Effekte

Ukrainekrieg – globale Folgen und Effekte

Im ersten Teil widmete sich Prof. Nils-Christian Bormann den Hintergründen des Krieges Russland gegen Ukraine. Nun beleuchtet er die möglichen zukünftigen Auswirkungen.

Hinweis: Der folgende Text basiert auf der Faktenlage zum 1. März

Welche Effekte haben Sanktionen?

Ob wirtschaftliche Sanktionen überhaupt Effekte haben, ist in der Politikwissenschaft hoch umstritten. Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unterscheiden hierbei drei Effekte von Sanktionen:

  1. Sie führen zu höherer Unzufriedenheit bei relevanten Gruppen im sanktionierten Land – in diesem Fall Russland. Die Bevölkerung macht ihre Regierung für die negativen Folgen der Sanktionen verantwortlich.
  2. Durch den Entzug wirtschaftlicher und technologischer Ressourcen wird eine zukünftige Expansionspolitik erschwert.  
  3. Sanktionen drücken darüber hinaus die Entschlossenheit der sanktionierenden Länder aus, zukünftige Eskalationen zu vermeiden.

Alle drei Mechanismen sind umstritten. Der Unzufriedenheitsmechanismus zielt darauf, den Diktator entweder durch einen Volksaufstand oder durch einen Staatsstreich zu entmachten. Skeptiker merken jedoch an, dass eine negative wirtschaftliche Entwicklung, die für die Unzufriedenheit bei russischen Bürgern sorgen würde, auch als weiteren Beleg für die negativen Absichten der NATO und des Westens herhalten könnte. Sie würde Putins Regime eher stärken als schwächen. Inwiefern Putin tatsächlich von den sogenannten russischen Oligarchen abhängig ist und somit möglicherweise Opfer eines Staatsstreichs von Eliten werden könnte, darf bezweifelt werden. Es ist wahrscheinlicher, dass die Oligarchen inzwischen vollkommen von Putin abhängig sind und er sich allein auf einen engen Zirkel von Geheimdienstlern stützt, um seine Macht zu erhalten.

Der wirtschaftliche Mechanismus entfaltet seine Wirkung über einen längeren Zeitraum. Über mehrere Jahre dürfte Russland keine anderen Möglichkeiten finden, Hochtechnologie oder Finanzkapital zu importieren. Diese Situation ist zurzeit noch gar nicht geben, da beispielsweise aus Deutschland massiv Devisen aus dem Gashandel nach Russland fließen. Sollte es Deutschland und anderen EU-Ländern tatsächlich gelingen, diese Abhängigkeit zu verringern, gibt es immer noch andere Länder, vor allem die Volksrepublik China, die Russland helfen könnten, nötiges Kapital sowie Technologie zu erhalten.

Der dritte Mechanismus signalisiert die Entschlossenheit der westlichen Länder, nicht nachzugeben. Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem und die Isolation der russischen Notenbank von Devisengeschäften in westlichen Ländern trifft die russische Wirtschaft nun sehr hart. Zum ersten Mal werden diese Sanktionen auch größere Kosten für Deutschland und andere europäische Länder verursachen. Zwar sollen zunächst Öl- und Gasimporte aus Russland nicht betroffen sein, es ist aber wahrscheinlich, dass Russland diese Exporte selber drosseln oder die exportierten Güter verteuern wird. Somit kommunizieren die EU und andere Länder, dass sie selbst bereit sind, Kosten zu tragen, um Russlands Aktionen entgegen zu wirken. An der militärischen Balance im Ukrainekrieg wird der Ausschluss aus dem SWIFT-System zunächst wenig ändern.  Einen weiteren Angriffskrieg insbesondere gegen EU-Mitgliedsstaaten werden durch die demonstrierte Entschlossenheit der Sanktionen jedoch unwahrscheinlicher.

Wie könnte der Konflikt in der Ukraine ausgehen?

Um diese Fragen zu beantworten, unterscheiden Politikwissenschaftler theoretisch zwischen zwei Arten von Kriegen. Einerseits totalen Kriegen, die geführt werden, bis einer der beteiligten Akteure komplett besiegt ist und andererseits begrenzte Kriege, die einem konkreten Ziel wie der Veränderung von Grenzen oder einem Regierungswechsel dienen. Es ist unstrittig, dass die russische Armee die Möglichkeiten besitzt, die Ukraine komplett in Schutt und Asche zu legen, im schlimmsten Falle mit Nuklearwaffen. Aus Putins Aussagen und auch aus dem vorsichtigen Vorgehen der russischen Armee bei früheren gewalttätigen Konflikten, ist jedoch davon auszugehen, dass Putin einen begrenzten Krieg führt. Dieser zielt darauf ab, die ukrainische Armee massiv zu schwächen, Grenzveränderungen wie die effektive Unabhängigkeit ostukrainischer Gebiete herbeizuführen und nicht zuletzt einen Regierungswechsel in Kiew zu bewirken.

Die Frage ist, welchen Preis Putin bereit ist zu bezahlen, um diese Ziele zu erreichen. Der Politologe Bransilav Slantchev hat ein theoretisches Modell entwickelt, welches zeigt, wie auch militärisch schwächere Akteure einen Krieg gewinnen können, wenn sie selber den größeren Willen haben, Opfer zu bringen. Die letzten Tage haben gezeigt, dass die ukrainische Bevölkerung und ihre politische Führung bereit sind, sehr große Opfer zu bringen. Zwar wird die russische Armee den Krieg innerhalb der nächsten Wochen vermutlich militärisch gewinnen, in dem sie den Regierungsbezirk von Kiew zerstören und den Großteil der ukrainischen Armee in der Ostukraine aufreiben, aber die Verluste für Russland dürften sehr hoch sein. Darüber hinaus muss sich die russische Armee dann auf einen langanhaltenden Guerillakrieg einstellen - finanziert von westlichen Regierungen. Zwar bietet die Ukraine keine einfachen Rückzugsmöglichkeiten wie Gebirgszüge, aber die russische Armee wird weder die Millionenstädte des Landes noch das sehr große Staatsgebiet effektiv kontrollieren können.

Daher sind zwei Möglichkeiten erwartbar:

  • Entweder intensiviert die russische Armee in den nächsten Tagen und Wochen ihre Angriffe ganz massiv und versucht, die Ukraine zur Aufgabe zu zwingen - ein Vorgehen, welches mit vielen zivilen Opfern verbunden sein wird,
  • oder Putin wird seine Ziele revidieren müssen und daraufhin versuchen, die zukünftige Neutralität der Ukraine, die Abspaltung von Donezk und Luhansk und eine Beschränkung der ukrainischen Armee durchzusetzen.

Um Putin vorläufig einen gesichtswahrenden Rückzug anzubieten, wird man ihm Zugeständnisse machen müssen. Ohne Zugeständnisse wird der Krieg noch viele Opfer fordern.

 

Welche Konsequenzen ergeben sich für Deutschland, die EU und die NATO?

Ein direkter militärischer Angriff auf NATO-Mitglieder, ähnlich wie bei der Invasion der Ukraine, ist höchst unwahrscheinlich. Auch wenn Putin vielen Menschen außerhalb Russlands als wahnsinnig erscheint, ist er das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Sein Vorgehen ist zu berechnend, zu systematisch und zu sehr im Einklang mit den theoretischen Erwartungen von Standardmodellen der Politikwissenschaft, als dass die Diagnose „Wahnsinn“ Sinn ergäbe. Somit ist Putin selbst zu einem gewissen Grad berechenbar. Nicht zuletzt die erfolgreiche frühzeitige Vorhersage der Invasion der Ukraine durch osteuropäische Regierungen und die US-Regierung unterstützt diese Diagnose. Daraus lässt sich auch schließen, dass Putin kein Interesse an einem Nuklearkrieg hat, der bei einem konventionellen Angriff auf Staaten an NATOs Ostflanke drohen würde, in denen amerikanische oder französische Soldaten stationiert sind.

Zwar ist die russische Armee den konventionellen Streitkräften Europas derzeit überlegen, diese Überlegenheit wird nach den Ereignissen der vergangenen Tage in den nächsten Monaten und Jahren jedoch schnell schrumpfen. Alle osteuropäischen Staaten werden ihre Verteidigungshaushalte massiv erhöhen und auch viele westeuropäische Staaten werden deutlich mehr in ihr militärischen Kapazitäten investieren. Gemeinsam haben die Mitglieder der EU eine viel höhere Wirtschaftskraft und eine viel dynamischere Wirtschaft als Russland, sodass sie mittel- und langfristig hohe Rüstungsausgaben finanzieren können.

Dieses schnelle Aufholen eines militärischen Rückstands beinhaltet natürlich auch kurzfristige Risiken, denn sie erhöhen die Dringlichkeit des bereits beschriebenen „commitment problems“. Nach dieser Sichtweise wäre ein Konflikt mit europäischen Staaten heute eher zu gewinnen als beispielsweise in zehn Jahren. Dagegen spricht jedoch, dass die russische Armee zu stark in der Ukraine gebunden ist, als dass sie in naher Zukunft einen zweiten Krieg führen könnte. Weiterhin wird Putin auch die nukleare Abschreckung der Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO von einem weiteren Konflikt in Europa zunächst abhalten.

Ob und wie schnell EU-Länder versuchen werden, den konventionellen russischen Streitkräften etwas entgegen zu setzen, hängt auch mit der nächsten US-Präsidentschaftswahl zusammen. Sollte sich andeuten, dass Donald Trump noch einmal Präsident werden könnte, werden die europäischen Militärausgaben sicherlich schneller steigen. Dann ist auch die tatsächliche Gründung einer europäischen Armee nicht mehr ausgeschlossen.

Ebenfalls nicht auszuschließen sind Cyberangriffe Russlands auf Mitglieder der EU, die Finanzierung von radikalen politischen Parteien in Europas Demokratien, die gezielte Streuung von Lügen in sozialen Medien und über Russlands Auslandssender Russland RT, sowie möglicherweise der Versuch in weiteren Ländern, Separatistenbewegungen wie in der Ostukraine zu etablieren.

Somit werden sich EU und NATO mit Russland als rivalisierende Macht auseinandersetzen müssen. Ein weiterer heißer Krieg erscheint zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als unwahrscheinlich. Zumindest so lange sich Putin nicht zu sehr in die Enge gedrängt fühlt.  

Über den Autor:

Nils-Christian Bormann ist Konfliktforscher und Professor für International Political Studies an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft an der Universität Witten/Herdecke (UW/H).

Er forscht unter anderem an den Ursachen von Instabilität in multiethnischen oder demokratischen Gesellschaften. Darüber hinaus lehrt er in den Studiengängen Philosophie, Politik und Ökonomik sowie Philosophy, Politics and Economics.

Zum Blogbeitrag von Nils-Christian Bormann zu den Hintergründen des Ukrainekriegs.

Zum Thema Ukraine-Krieg hat er kürzlich auch ein Interview gegeben.

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